Zweiter Weltkrieg Belagerung von Leningrad – so will Putin deutsche Verbrechen für seinen Krieg ausnutzen

Hungertote werden in der Stadt verscharrt.
Hungertote werden in der Stadt verscharrt.
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Hitler wollte die Bewohner von Leningrad im  Krieg allesamt verhungern lassen. Russland stuft die Belagerung von Leningrad nun als Völkermord ein. Wir fragen: Was will Putin damit erreichen und was ist dran an dem Vorwurf?

Deutsche und finnische Truppen und eine Division spanischer Freiwilliger schlossen die Stadt – damals Leningrad, heute wieder St. Petersburg – 871 Tage lang ein. Die Belagerung dauerte vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. In Deutschland rangieren die Kämpfe um Leningrad in der zweiten Linie, die Wahrnehmung wird von der Schlacht um Stalingrad dominiert. In Russland sind diese 871 Tage viel präsenter, denn Leningrad repräsentiert das Leiden des Volkes.

In Leningrad zeigte sich der Rassenhass Hitlers

Was unterscheidet diese Belagerung von anderen? Von Anfang an entschied Hitler, die Stadt nicht einzunehmen, was inmitten des Zusammenbruchs der sowjetischen Verteidigung 1941 vermutlich möglich gewesen wäre. Das deutsche Heer sollte nicht mit der Versorgung der Einwohner belastet werden. Zudem galt die Stadt Lenins als Hochburg der Kommunisten. Erklärtes Ziel war es, die Leningrader von jeder Versorgung abzuschneiden und verhungern zu lassen. Sollten Zivilisten versuchen, sich den Deutschen zu ergeben, sollten sie zurückgeschickt werden.

Keine saubere Wehrmacht 

In Leningrad zeigt sich wenige Monate nach dem Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion der zutiefst verbrecherische Charakter des NS-Regimes und auch die willige Mithilfe der Wehrmacht bei diesen Verbrechen. Klar wurde auch, dass die Ausrottungs-Fantasien der deutschen Führung sich nicht allein auf die Juden erstreckten, sondern auch auf den Sowjetmenschen als solches. Den Achsenkräften gelang es nie, die Stadt vollständig einzuschließen, aber es starben etwa 1,1 Millionen Menschen, fast alle verhungerten. Vom Sterben der Stadt gibt es unzählige, erschütternde Zeugnisse. Die deutsche Regierung stuft die Belagerung als Kriegsverbrechen ein, die russische nun auch als Genozid.

Forschung geht von einem Vernichtungskrieg im Osten aus

In der Sache ist das nicht zu bestreiten. Seit langem hat sich das Bild der angeblich "sauberen" Wehrmacht eingetrübt. Das Narrativ der 1960er Jahre, dass nur die Einheiten der SS in die Verbrechen verwickelt waren und die Offiziere der Wehrmacht davon entweder nichts wussten, oder nichts dagegen tun konnten und auf keinen Fall darin verwickelt waren, ist mit der Generation der Täter ausgestorben. Dafür setzte sich in der Forschung die Ansicht durch, dass der Feldzug im Osten darauf zielte, die dortige Bevölkerung zu versklaven und auszurotten, um so Lebensraum für die arischen Deutschen zu schaffen. Von Beginn an war der Feldzug im Osten als "ideologischer Weltanschauungs- und rassebiologischer Vernichtungskrieg konzipiert", heißt es etwa auf der Seite des "Deutschen Historischen Museums".

Das Völkerstrafrecht definiert genau so den Völkermord. Er ist durch die Absicht gekennzeichnet, auf direkte oder indirekte Weise "eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören". All das trifft auf den Vernichtungskrieg im Osten im Allgemeinen und die Belagerung von Leningrad im Besonderen zu.

Völkermord wäre teuer 

Die deutschen Regierungen haben es bewusst vermieden, die Taten an der Ostfront als Genozid einzustufen. Nicht nur in Russland, auch in Weißrussland, der Ukraine und in Polen dürften sich hervorstechende Ereignisse finden. Etwa die Niederschlagung des Warschauer Aufstands. 

Das deutsche Zögern hat wenig mit der aktuellen politischen Lage zu tun. Es geht schlicht ums Geld, Deutschland will diese Debatte nicht führen aus Angst, finanziell für Verbrechen aus dem Zweiten Weltkrieg in Haftung genommen zu werden. Allein Polen fordert 1300 Milliarden Euro als Entschädigung für Kriegsschäden. Die deutsche Regierung argumentierte dann stets, Reparationen für den Krieg seien bereits abgegolten. Doch der Tatbestand "Genozid" ist von den Verträgen der Nachkriegszeit nicht erfasst. Einfach gesagt: Völkermord ist bei Angriffskrieg nicht inklusive. Die Argumentation, nicht zahlen zu wollen, wird dann noch schwerer. Hinzu kommt, dass die deutsche Regierung den Völkermord an den Herero und Nama im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika offiziell als Genozid anerkannt und Entschädigungen gezahlt hat. In diese juristische Lücke zielt der russische Vorstoß.

Kampf im Informationsraum

Was will Putin damit erreichen? Der Kreml weiß, dass der deutsche Kanzler sich in der jetzigen Situation niemals zu einem Kniefall nach St. Petersburg begeben wird. Und auch, dass es heute und in der Zukunft ganz unwahrscheinlich ist, dass Berlin irgendwelche Entschädigungen für die deutschen Verbrechen leisten wird – schon allein, weil diese Zahlungen die deutsche Finanzkraft weit übersteigen.

Die neue Schlacht um Leningrad findet im Informationsraum statt. Hier kann Putin Deutschland vor sich hertreiben. Berlin nimmt eine undankbare Rolle ein, wenn ein offensichtliches Verbrechen aus taktischen und finanziellen Gründen nicht beim Namen genannt werden darf. Für Russland wird es dagegen ein Leichtes sein, von internationalen Experten Gutachten über den Charakter der Belagerung einzuholen. Vermutlich wird die Kreml-PR die Kunde von deutschen Verbrechen mit all ihren schrecklichen Einzelgeschichten auch im Globalen Süden ausschlachten. Der naheliegende Spin: "Die Deutschen machten bei uns im Osten das gleiche, was die Kolonialmächte bei euch taten."

Russland als Opfer 

In Russland selbst verstärkt die "Belagerung von Leningrad" das Narrativ, den Krieg in der Ukraine als "Großen Vaterländischen Krieg 2.0" zu verkaufen. In der Lesart des Kremls hat Russland nämlich nicht das Nachbarland überfallen. Nein, es musste eingegriffen werden, bevor die Ukraine zum Aufmarschraum von Nazis und Nato werden konnte. In Russland glauben die Menschen an dieses Narrativ. Zum Jahrestag des Endes der Blockade interviewten deutsche Journalisten alte Frauen in St. Petersburg. Sie sagten stolz in die Kamera, dass sie als Kinder den Hunger und die Bomben der Deutschen überlebt haben und jetzt alles dafür tun, damit die Soldaten, die "Jungs", in der Ukraine gut versorgt würden. Dazu gibt es eine sehr persönliche Beziehung zum Kremlherrscher. 

Zum 70. Jahrestag des Kriegsendes im Jahr 2015 schrieb Putin den Text: "Das Leben ist eine einfache und grausame Sache". Und fasst darin die Erinnerungen seiner Familie zusammen, er selbst wurde 1953, also nach dem Krieg geboren. Putins Vater kämpfte bei Leningrad, im berüchtigten Newski-Brückenkopf, und wurde schwer verwundet. Sein älterer Bruder starb als Kind in Folge des Hungers in der Stadt an Diphtherie. Putins Mutter war so abgemagert, dass sie schon als Leiche abtransportiert werden sollte, überlebte dann aber doch. Und diese Geschichte – Putin als Teil des leidenden russischen Volkes – wird durch eine Debatte über die Belagerung von Leningrad erneut präsent.

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