Mit seinem Feldzug gegen die Ukraine hat Russland mit vielen vermeintlichen Gewissheiten aufgeräumt, nun vielleicht auch mit dieser: Die Zeit der Internationalen Raumstation (ISS) als Musterbeispiel für globale Zusammenarbeit, losgelöst von irdischen Differenzen, ist vorbei.
Der Ukraine-Krieg ist unlängst im All angekommen. Schon Anfang März warnte die russische Raumfahrtagentur Roskosmos, dass die ISS in Gefahr gerate, unkontrolliert abzustürzen, sollte die Nasa die Zusammenarbeit im Zuge des Konflikts aufkündigen. Es folgten weitere Drohungen, unter anderem, auf welchen Teil der Erde der 500 Tonnen schwere Außenposten der Menschheit denn krachen solle (der stern berichtete).
Nun folgt die nächste Provokation: Nach der Eroberung der ostukrainischen Stadt Lyssytschansk im Gebiet Luhansk haben sich Russlands Kosmonauten auf der ISS in Feierlaune gezeigt. Die russische Raumfahrtbehörde Roskosmos veröffentlichte am Montag ein Foto, das Denis Matwejew, Sergej Korssakow und Oleg Artemjew mit einer Flagge der selbsternannten "Volksrepublik Luhansk" in den Händen zeigt.
Russlands Truppen und prorussische Separatisten hätten Luhansk nun vollständig "befreit", heißt es in einer angehängten Mitteilung. "Wir feiern auf der Erde und im Weltraum." Ein zweites Foto zeigt die drei Raumfahrer mit einer Donezker Fahne. International sind die vermeintlich russischen "Volksrepubliken" auf ukrainischen Territorium nicht anerkannt – einzig von Russland und Syrien.
Damit wird die internationale Partnerschaft im All ein weiteres Mal auf eine harte Probe gestellt. Die ISS ist ein gemeinsames Projekt der USA, Kanadas, Japans, der Europäischen Weltraumbehörde (ESA) und Russlands, die Station in ein russisches und ein US-Segment unterteilt.
Ein Dilemma auf der ISS
Ein Dilemma, auch moralisch, das Nasa-Chef Bill Nelson vor wenigen Tagen so formulierte: "Es gibt absolut keine Entschuldigung für das, was Präsident Putin in der Ukraine getan hat", sagte er vor wenigen Tagen zum "Spiegel". Er kritisierte das "Abschlachten unschuldiger Menschen", prangerte die "Invasion eines unabhängiges Landes" an. "Dennoch gibt es dort oben im All eine Raumstation, die von Russen und Amerikanern gemeinsam betrieben wird. Und das wird auf friedliche und professionelle Art weitergehen."
Nur wie lange noch?
Nicht zuletzt die zahlreichen Drohgebärden des russischen Raumfahrtchefs Dmitri Rogosin haben Zweifel daran geschürt. Zuletzt kritisierte der Roskosmos-Chef den Tech-Milliardär Elon Musk für die "Versorgung faschistischer Kräfte in der Ukraine mit Mitteln militärischer Kommunikation". Musk hatte der Ukraine Satelliten-Internet zur Verfügung gestellt. Dafür werde er sich "wie ein Erwachsener" verantworten müssen, so Rogosin. Auch über einen Atomkrieg hatte er schon laut nachgedacht.
Die neuerliche Flaggen-Provokation dürfte für zusätzliche Spannungen sorgen. Dabei wurde der Flug der Kosmonauten zur ISS im März noch als subtile Botschaft gedeutet: Matwejew, Korssakow und Artemjew trugen gelb-blaue Anzüge, brachen also in den Nationalfarben der Ukraine zur Raumstation auf.
Wenig später stellte Russlands Raumfahrtbehörde allerdings klar: "Im Allgemeinen ist die Wahl darauf zurückzuführen, dass dies die korporative Farbe der Staatlichen Technischen Universität Moskaus ist", so Roskosmos-Sprecher Dmitri Strugowez. Alle drei Besatzungsmitglieder seien Absolventen dieser Universität.
Wie die Flagge der "Volksrepublik Luhansk" an Bord der ISS gekommen sein könnte, ist bislang unklar. Laut "Guardian" dockte am 3. Juni dockte ein unbemanntes russisches Frachtraumschiff an die ISS an, das nach Angaben der Nasa fast drei Tonnen Lebensmittel, Treibstoff und Vorräte transportierte.
Weder die US-Raumfahrtbehörde, noch die Europäische Weltraumorganisation (ESA) haben sich bisher zu dem Fall geäußert. Spätestens jetzt dürfte der Ukraine-Krieg jedoch unmittelbar auf der ISS angekommen sein. Welche Folgen das haben könnte, ist noch nicht absehbar.
Der frühere ESA-Generaldirektor Jean-Jaques Dordain pries die Raumstation einst als Beweis dafür, dass eine friedliche globale Zusammenarbeit von Partnern unterschiedlichster Kulturen nicht nur möglich, sondern auch sinnvoll ist. "Diese Partnerschaften würden selbst dann noch verbleiben, wenn es die ISS schon nicht mehr gäbe", sagte er. So sei die ISS zu einem echten Außenposten der Menschheit geworden – und stehe allen offen, die friedliche Ziele verfolgen und kooperieren wollen.
Quellen: "n-tv.de", "Der Spiegel", "The Guardian", "Süddeutsche Zeitung", ESA, mit Material der Nachrichtenagenturen DPA und AFP