Herr Reichholf, vom 19. bis 30. Mai berät die UN-Naturschutzkonferenz in Bonn über den globalen Artenschutz. Wie stark ist die Vielfalt auf der Erde bedroht?
Dazu müsste man erst einmal wissen, wie viele Arten es überhaupt gibt. Bekannt sind heute 1,8 Millionen, Bakterien nicht mitgerechnet. Niemand kann sagen, wie viele es insgesamt sind. Verschiedene Hochrechnungen kommen auf bis zu 100 Millionen, ich persönlich halte zehn Millionen für halbwegs realistisch. Für den täglichen Verlust an Arten gibt es überhaupt keine verlässlichen Zahlen.
Eine gute Ausrede, um nichts für den Artenschutz tun zu müssen.
Könnte man meinen. Aber wir müssen mit unserem Nichtwissen sorgfältig umgehen, weil wir ja keine Ahnung haben, was wir täglich verschwinden lassen. Im Regenwald etwa gibt es unzählige Tier- und Pflanzenarten, aber die kommen nur dünn gesät vor, manche bewohnen nur ein winziges Gebiet - ein Mosaik aus ganz unterschiedlichen Gemeinschaften. Wenn Sie da 100 Hektar abholzen, erwischen Sie darin unter Umständen ein Puzzleteilchen mit Arten, die noch nicht einmal entdeckt waren.
Warum brauchen wir diese unbekannten Arten?
Jedes Wesen hat ein Recht auf Leben. Außerdem wissen wir gar nicht, wozu viele Arten gut sind und ob wir sie eines Tages nutzen können. Durch die Gentechnik lassen sich vorteilhafte Eigenschaften einer Art auf andere übertragen. Das lässt die Artenvielfalt heute noch kostbarer erscheinen.
Aber es gibt ja auch Arten, die vielleicht nie etwas nutzen werden, die aber großen Schaden anrichten. Wer braucht schon das Pestbakterium oder Plasmodien, die Erreger der Malaria?
Solche Krankheitserreger sind überflüssig und gehören ausgerottet. Man muss sie aber in Hochsicherheitsabteilungen konservieren, weil wir jetzt noch nicht wissen, wofür sie einmal nützlich sein könnten. Denken Sie an den Schimmelpilz, den man zwar keinesfalls auf Lebensmitteln haben möchte, der aber zur Entdeckung des Penicillin geführt hat, eines der wichtigsten Medikamente der Welt.
Was ist die größte Bedrohung für die Artenvielfalt?
Die Landwirtschaft. In Mitteleuropa etwa fördert die Überdüngung ganz bestimmte Pflanzen wie Löwenzahn und dichtwüchsige Gräser. Das nimmt anderen Arten die Lebensmöglichkeit. Und zwar nicht nur auf den Flächen: Über das Grundwasser gelangen nitrathaltige Nährstoffe in die Gewässer und begünstigen dort einseitig Algenanarten, vor allem Blaugrünbakterien. Dadurch sind Flusskrebse und Muscheln selten geworden, auch Kleinfische wie Stichlinge oder Bitterlinge.
Zurzeit werden weltweit Lebensmittel knapp. Muss der Artenschutz zurückstecken, weil die Menschen erst einmal ihre Grundnahrungsmittel anbauen wollen?
Naturschutz und Landnutzung schließen sich überhaupt nicht aus. Bei uns in Europa herrschte im 17. und 18. Jahrhundert oft große Hungersnot, jeder nutzbare Quadratmeter wurde umgepflügt, die Böden waren völlig übernutzt. Aber der Artenreichtum war größer als heute: Es gab viele kleine Felder mit unterschiedlichen Nutzpflanzen, also unzählige verschiedene Biotope.
Lässt sich das so einfach auf Schwellen- oder Entwicklungsländer übertragen?
Das Problem für den Artenschutz in armen Ländern der Tropen und Subtropen ist nicht die kleinbäuerliche Landwirtschaft. Und auch nicht die wachsende Bevölkerung. Brasilien zum Beispiel ist mit 20 Menschen pro Quadratkilometer extrem dünn besiedelt. Trotzdem werden dort jeden Tag riesige Regenwaldflächen gerodet - um Soja oder Mais anzubauen, die als Tierfutter in die EU oder nach China exportiert werden. Dadurch fehlen Ackerflächen für die Erzeugung von Nahrung für die Menschen vor Ort, das gilt für Südamerika genau so wie für Afrika.
Was wäre die Alternative?
Wenn Deutschland nur die Menge an Vieh produzieren würde, die wir durch unsere eigenen Weiden und Äcker ernähren können, müssten wir nur den benötigten Rest importieren: zum Beispiel hochwertiges Rindfleisch aus der argentinischen Pampa. Das würde sich für beide Seiten lohnen: Für Deutschland wäre es billiger, direkt Rindfleisch zu importieren als erst eine vielfache Menge an Futtermitteln, um daraus hier Fleisch zu machen. Argentinien würde für das hochwertige Produkt Fleisch pro Kilo deutlich mehr Geld bekommen als für billigen Sojaschrot. Und es würden riesige Flächen frei werden, für die heimische Landwirtschaft und für den Naturschutz.
Aber man würde ja wohl kaum Schutzgebiete daraus machen?
Es kommt drauf an, ob sich der Naturschutz auch für die Menschen lohnt. Elefanten zum Beispiel kann man nur erhalten, wenn man ihnen große Flächen reserviert. Solche Großtierarten bringen aber anderweitigen Nutzen: Bernhard Grzimek hat in Ostafrika vorgemacht, wie man die Bevölkerung überzeugen kann, ihre Natur zu schützen. Er hat den Leuten erklärt: "Die Menschen kommen aus der ganzen Welt, um eure Natur zu bestaunen. Und sie bringen Geld mit. Davon könnt ihr besser leben als von mageren Ziegenherden, die alles kurz und klein fressen." Es ist die alte Wahrheit: Schützen durch Nützen.
Gibt es besonders wertvolle Arten, die man eher schützen sollte als andere?
Schützenswert ist alles, was nur oder vor allem in einem begrenzten Gebiet vorkommt und nicht überall auf der Welt. Ein Beispiel sind Greifvögel: In Deutschland lebt die Hälfte aller weltweit vorkommenden Rotmilane. Der Rest verteilt sich relativ dünn auf Südwesteuropa und das Baltikum. Für diesen Vogel tragen wir daher viel größere Verantwortung als beispielsweise für den Seeadler, der auch in anderen Ländern weit verbreitet ist.
Welche Arten halten Sie hierzulande für entbehrlich?
Um die "Entbehrlichkeit" geht es nicht, sondern darum, wofür wir die Mittel einsetzen und Beschränkungen erlassen. Viele Vogelarten haben Verbreitungsgebiete, die sich von Europa über ganz Nordasien erstrecken. So würden Blaukehlchen und Rotkehlchen als Arten nicht aussterben, wenn es sie in Deutschland nicht mehr gäbe. Genauso wenig Steinadler und Biber oder selbst Braunbären. Dass wir sie dennoch "haben" wollen, ist eine andere Sichtweise, die durchaus gerechtfertigt ist, aber mit Artenschutz wenig zu tun hat.
Wenn der Bär entbehrlich ist, warum waren Sie so vehement gegen den Abschuss von Bruno, dem Braunbären?
Weil der Bär in der Europäischen Union absolut geschützt ist. Es kann nicht sein, dass sich ein einzelnes Land der EU, und dann auch noch ein einzelnes Bundesland wie Bayern, über europäisches Recht hinweg setzt. Mit welcher Begründung wollen die Bayern keine Braunbären haben, aber die Italiener, Rumänen und Österreicher sollen sie ertragen? Man hätte alles daran setzen müssen, den Bären lebend zu bekommen, um unseren Vorbildcharakter im Naturschutz zu erhalten. Bruno kam aus Slowenien, einem EU-Land, das mit einem relativ großen Bärenbestand gut zurechtkommt. Er hat ein paar Schafe getötet und Tauben erschreckt, aber es gab keinen einzigen Fall, in dem ein Mensch ernsthaft bedroht gewesen ist.
Warum schrillen in Deutschland sofort die Alarmglocken, wenn wieder ein wilder Bär oder Wolf durch die Landschaft streift?
Unter anderem weil die Haftungsfrage nicht geklärt ist. Natürlich müssen Bauern für getötetes Vieh entschädigt werden. Das werden sie. Aber es muss auch klar sein, wer zahlt, wenn dann doch einmal Mensch zu Schaden kommt. Bisher gibt es da keinerlei Absicherung. Ich fände es sinnvoll, wenn große Versicherungen aus eigener Tasche eine Haftpflicht für Bär- und Wolf finanzierten. Das wäre aus meiner Sicht sinnvolles Umwelt-Sponsoring und würde den Menschen helfen, große Wildtiere wieder zu akzeptieren.
Ist uns die Natur fremd geworden?
Ganz eindeutig. Die Leute fahren nach Afrika und sonst wohin, um wilde Tiere zu sehen. Sie bezahlen viel Geld für das Risiko, mitten im Löwen-Gebiet in einem Zelt übernachten zu dürfen. Gleichzeitig wird hier in Deutschland so getan, als hätten wir größte Gefahren durch ein paar umher streifende Bären und Wölfe zu befürchten.
Wie kann man seine Kinder zu Umweltschützern erziehen?
Ich bin absolut dafür, dass Kinder manche "Vorschriften" missachten dürfen, zumal wenn sich diese längst als unbrauchbar herausgestellt haben. Sie sollten einen Frosch mit nach Hause nehmen, Kaulquappen und Raupen aufziehen und tote Vögel mitnehmen dürfen. Nur wer die Natur erleben kann, wird sie auch schützen wollen. In Deutschland heißt Naturschutz vor allem: Betreten und anfassen verboten!
Braucht Artenschutz in Deutschland denn keine Wildnis mehr?
Es sollte durchaus Schutzzonen geben, etwa solche Gebiete, die in unserem Land einzigartig sind oder in Europa etwas Besonderes darstellen: die Buchenwälder und die Bergwälder der Alpen, die Quellen der Mittelgebirgsbäche oder isolierte Seen wie die Maare in der Eifel. Tabu sollten vor allem solche Stellen sein, in denen störungsempfindliche Vogelarten brüten oder das Wild gerade Junge hat. Aber kleine Eckchen am Baggersee abzutrennen und zum Biotop zu erklären, ist Unsinn. Solche Flächen sind viel zu klein, um größere, schützenswerte Arten zu erhalten.
Wie kann Deutschland dabei helfen, die Lebensräume in anderen Ländern zu schützen?
Die ärmeren Länder in den Tropen und Subtropen beherbergen den größten Reichtum und haben die größten Probleme, ihn zu erhalten. Reiche Länder wie Deutschland pflegen intensive wirtschaftliche Beziehungen zu diesen Ländern. Ich denke, für den Artenschutz ließe sich mehr über bilaterale Verhandlungen von Land zu Land erreichen. Die Entwicklungshilfe sollte mit Bedingungen verknüpft werden. Als Gegenleistung für Fördergelder sollten die Geberländer verfügen dürfen, dass bestimmte Flächen, zum Beispiel besonders artenreiche Tropenwälder, geschützt und erhalten werden müssen. Das wird dann von Experten der Geberländer vor Ort kontrolliert. Werden die Schutzauflagen missachtet, muss die Entwicklungshilfe zurückgezahlt werden. Gutes Geschäftsgebaren muss die Grundlage werden.
Mit wem sollte Deutschland verhandeln?
Zum Beispiel mit so hilfsbedürftigen Ländern wie Peru oder Bolivien. Ein einfaches Geschäft: Wirtschafts- und Entwicklungshilfe gegen den Schutz des Regenwalds.
Gibt es auch positive Beispiele in Sachen Artenschutz?
Ja, mein Lieblingsland Costa Rica. Dieser winzige Staat schafft es, seine Wälder zu schützen und zu vergrößern. Costa Rica leistet sich nämlich seit Jahren keine Armee mehr und investiert stattdessen in soziale Aufgaben wie Wasserversorgung, Hygiene und Schulbildung. Das ermöglicht es den Menschen, den Artenreichtum ihres Landes zu erkennen, wertzuschätzen und mit Tourismus Geld zu verdienen. Ich wette, dass Kinder in Costa Rica ihre heimischen Schmetterlinge besser kennen als Kinder in Deutschland. Dabei gibt es dort viel mehr Arten als bei uns.
Wie sieht es in großen, bevölkerungsreichen Ländern aus?
Nehmen Sie das Beispiel Indien: Dort schrumpft der Wald, die Menschen drängen in die Schutzgebiete vor. Dennoch erhält das Land seine Großtiere, obwohl der Subkontinent mit einer Milliarde Menschen besiedelt ist. Indien riskiert die Erhaltung des Tigers, obgleich Menschen von Tigern getötet werden. Auf Staatskosten wird Getreide an die überwinternden Kranichschwärme verfüttert, damit sie nicht die benachbarten Felder der armen Bauern plündern. Wie sieht das bei uns aus? Wo bitte sind die großen Kranich- oder Gänsefütterungen, damit ärmeren Bauern hierzulande keine Schäden entstehen? Da ist uns Indien in vieler Hinsicht weit voraus. Der Egoismus ist bei uns ungleich größer. Das ist eine Frage der Kultur: Wir haben uns die Erde "untertan" gemacht, als Leitmotiv der westlich-christlichen Kultur, ein Gegenentwurf zum Miteinander mit anderen Lebewesen. Wir denken immer, der Mensch stünde über der Natur und sei etwas ganz Besonderes. Man muss aber kein strenggläubiger Hindu sein, um einzusehen, dass auch andere Lebewesen ein Daseinsrecht haben.