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Pandemie-Gefahr "Die Bombe tickt"

Sind wir auf eine globale Grippepandemie ausgelöst durch das Vogelgrippevirus vorbereitet? "Nein" lautet die klare Antwort von Klaus Stöhr, Chef des "Global Influenza Programme" der WHO.
Von Michael Lenz, Bangkok

"Vor drei Jahren gab mir die Europäische Kommission 15 Minuten zur Beantwortung der gleichen Frage. Ich sagte, ich brauche dafür nur eine Minute: 'Wir sind nicht vorbereitet.' Daran hat sich bis heute nichts geändert", sagte Stöhr auf der 17. Epidemiologischen Weltkonferenz in Bangkok. Von den weltweit etwa 200 Ländern hätten nur 50 schriftliche Notfallpläne. Diese aber rangierten von einer Seite bis 450 Seiten. "Nur zehn Prozent haben diese Pläne in eine gesetzliche Form gegossen", kritisierte der Experte.

7,4 Millionen Tote könnte eine erste Grippewelle fordern

Die letzten drei großen Grippeepidemien 1918, 1957 und 1968 hätten zusammen über 100 Millionen Tote gefordert. 1957 habe die asiatische Grippe für ihren Siegesumzug um die Welt weniger als sechs Monate gebraucht. "Das ist der Zeitraum, der uns bei einem Ausbruch allerhöchstens bleibt", warnt Stöhr. Es sei aber gut möglich, dass sich das Virus im Zeitalter der Globalisierung und des weltweiten Tourismus sehr viel schneller ausbreiten werde. Eine erste Welle könne bis zu 7,4 Millionen Tote fordern und mehr als eine Milliarde Menschen müssten mit teilweise schweren Krankheitssymptomen rechnen. Ein Zusammenbruch der medizinischen Versorgung, der Sozialsysteme und der Wirtschaft sei die Folge. Einen Vorgeschmack auf die Auswirkungen einer weltweiten Grippeepidemie habe vor zwei Jahren das Auftreten der Lungenkrankheit Sars gegeben.

Interview

Fragen an Dr. Martin Beer vom Friedrich-Loeffler-Institut, Bundesforschungsanstalt für Viruskrankheiten der Tiere
Dr. Martin Beer ist Leiter des Insituts für Virusdiagnostik. In seinem Institut befindet sich das nationale Referenzlabor für aviäre Influenza (Vogelgrippe).

Wie hoch schätzen Sie das Risiko einer Einschleppung der Vogelgrippe nach Europa?

Theoretisch ist es möglich, dass Entenvögel die Seuche einschleppen. Es ist aber noch gar nicht klar, ob die Vogelgrippe die Region westlich des Urals erreicht hat.
Wir schätzen das Risiko einer Einschleppung der Seuche durch illegale Geflügelimporte höher ein als die Gefahr durch Zugvögel.
Halten Sie die Maßnahmen der Bundesregierung, Geflügel zum Schutz vor möglicherweise infizierten Zugvögeln, wegzusperren, für sinnvoll?

Wenn man das geringe Risiko einer Einschleppung durch Zugvögel ernst nimmt, ist das eine Möglichkeit das Risiko zu minimieren.
Wie groß ist die Gefahr, dass das Vogelgrippe-Virus auf den Menschen überspringt?

Das Vogelgrippe-Virus ist für den Menschen nur unter bestimmten Bedingungen gefährlich. Das Risiko der Entstehung eines Pandemie-Virus muss ernst genommen werden. Die Höhe des Risikos kann derzeit aber nur schwer eingeschätzt werden.
Wer allerdings in die von Vogelgrippe betroffenen Länder reist, sollte direkten Geflügelkontakt meiden. Wenn er Geflügelprodukte isst, sollte er darauf achten, dass das Fleisch gut erhitzt wurde, denn Hitze tötet das Virus.
Gibt es einen Impfstoff für Menschen?

Wir haben einen Impfstoff für Geflügel entwickelt. Für den Menschen gibt es lediglich antivirale Medikamente, aber keinen Impfstoff. Im Falle einer Pandemie gibt es Notfallpläne des Gesundheitsministeriums. Dann ist auch das Robert-Koch-Institut zuständig.
Was kann jeder einzelne tun, um sich zu schützen?

In Deutschland sind derzeit keine persönlichen Schutzmaßnahmen notwendig. Leute, die direkten Kontakt mit Geflügel haben, müssen im Ausbruchsfall besondere Vorkehrungen treffen, also beispielsweise Schutzkleidung tragen.
Die Wahrscheinlichkeit, in Kontakt mit infizierten Zugvögeln zu kommen, mag noch relativ gering sein. Was aber, wenn das Virus auf Stadttauben übergeht?


Es ist noch nicht klar, ob Tauben das Vogelgrippe-Virus weitergeben können. Dies untersuchen wir derzeit in unserem Institut.
Der Chef des Robert-Koch-Institutes kritisiert, die Länder seien nicht genügend auf eine Pandemie vorbereitet, hätten zu wenig Medikamente vorrätig. Wie schätzen Sie das ein?

Das Robert-Koch-Institut hat im Falle einer Pandemie die Zuständigkeit. Bei den Medikamenten handelt es sich nicht um einen Impfstoff, sondern um antivirale Mittel, die unspezifisch gegen Virusinfektionen wirken. Im Falle einer Infektion können sie eine Milderung der Erkrankung herbeiführen.
Das Gespräch führte Jens Lubbadeh

Stöhr teilt die Befürchtung vieler Wissenschaftler, dass eine neue große Pandemie längst überfällig sei. "Die Bombe tickt", warnt der Fachmann und fügt hinzu: "Statistisch gesehen müssen wir alle 27,5 Jahre mit einer großen Grippewelle rechnen." Ein potenzieller Kandidat dafür sei eben das H5N1-Virus, das die Vogelgrippe auslöst. Dafür spreche das Ausmaß der Infektionen unter Hühnern und Enten in südostasiatischen Ländern, die Zahl der Übertragungen auf den Menschen und zwischen Menschen in dieser Region sowie die Weiterverbreitung des Virus durch Zugvögel. "Die H5N1-Epidemie in Südostasien im Jahr 2004 war ohne Beispiel", sagte Stöhr und fügte hinzu: "Niemals zuvor ist das Virus fast zeitgleich in zehn Ländern aufgetreten. Mit anderen Worten: bereits halb Asien ist betroffen." Zudem verändere sich das H5N1 rapide.

Nicht genügend Medikamente weltweit vorhanden

Einen dicken Dämpfer erteilte Stöhr Hoffnungen auf eine pharmazeutische Lösung des Problems. Die Produktionskapazitäten des einzigen Gegenmittels Tamiflu seien begrenzt. "27 Länder haben Vorräte des antiviralen Mittels angelegt. Aber alle Vorräte zusammen reichen gerade mal aus, um zwei Prozent der Weltbevölkerung zu behandeln." Fünf weitere Länder seien dabei, Vorräte anzulegen. Die Herstellerfirma arbeite daran, die Produktionskapazität gewaltig auszubauen. "Aber jede neue Nachfrage kann frühestens 2007 befriedigt werden." Einzige Hoffnung zur Vermeidung der großen Katastrophe sei es, durch das multizentrische WHO-Netzwerk zur Früherkennung von Infektionsquellen lokale Ausbrüche des Virus frühzeitig zu erkennen. Die betroffenen Regionen müssten dann sofort konsequent hermetisch abgeriegelt und die Menschen umgehend mit Tamiflu versorgt werden. Die Strategie der Isolation Betroffener und der Abschottung möglicherweise verseuchter Gebäude und Regionen habe sich bei Sars bewährt. "Die weitere Verbreitung des Erregers war nach etwa drei Monaten gestoppt." Aber trotzdem sei ein Comeback von Sars nicht ausgeschlossen. "Das Reservoir des Sars-Erregers ist noch nicht entdeckt worden." Aber die Einschränkung folgt auf den Fuß: das Vogelgrippevirus werde eher in ländlichen Gebieten ausbrechen. "Die sind aber schwer zu kontrollieren."

Stöhr befürchtet zudem, dass im Ernstfall die Medikamente nicht in den Regionen zur Verfügung stehen könnten, wo sie am dringendsten zur Eindämmung des Virus gebraucht würden. "Jede Regierung wird zunächst ihre eigene Bevölkerung schützen wollen." Elf südostasiatische Länder hatten vor zehn Tagen in Bangkok ein Netzwerk gegen die Vogelgrippe gegründet. Die Gesundheitsminister dieser Länder vereinbarten die Gründung eines Impfstoffpools, aus dem bei akuten Ausbrüchen das Medikament in allerhöchstens 24 Stunden am Ort des Ausbruchs zur Verfügung stehen soll. So soll nach dem "Feuerlöscherprinzip" eine Ausbreitung des Virus an Ort und Stelle verhindert werden. Die elf Länder wollen je fünf Prozent ihrer Vorräte in diesen Pool einbringen. Mit der Einigkeit war jedoch schon wieder Schluss bei der Frage, in welchem der Länder das zentrale Lager eingerichtet werden solle. Thailands Gesundheitsminister Suchai Charoenratanakul sagte, es gehe nicht "um den richtigen Ort, sondern den richtigen Zeitpunkt" für den "schnellen Einsatz" des Medikaments. Offen blieb auch, wie der Einsatz der Tamifluvorräte aus dem Pool im Ernstfall koordiniert werden solle.

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