"Vor drei Jahren gab mir die Europäische Kommission 15 Minuten zur Beantwortung der gleichen Frage. Ich sagte, ich brauche dafür nur eine Minute: 'Wir sind nicht vorbereitet.' Daran hat sich bis heute nichts geändert", sagte Stöhr auf der 17. Epidemiologischen Weltkonferenz in Bangkok. Von den weltweit etwa 200 Ländern hätten nur 50 schriftliche Notfallpläne. Diese aber rangierten von einer Seite bis 450 Seiten. "Nur zehn Prozent haben diese Pläne in eine gesetzliche Form gegossen", kritisierte der Experte.
7,4 Millionen Tote könnte eine erste Grippewelle fordern
Die letzten drei großen Grippeepidemien 1918, 1957 und 1968 hätten zusammen über 100 Millionen Tote gefordert. 1957 habe die asiatische Grippe für ihren Siegesumzug um die Welt weniger als sechs Monate gebraucht. "Das ist der Zeitraum, der uns bei einem Ausbruch allerhöchstens bleibt", warnt Stöhr. Es sei aber gut möglich, dass sich das Virus im Zeitalter der Globalisierung und des weltweiten Tourismus sehr viel schneller ausbreiten werde. Eine erste Welle könne bis zu 7,4 Millionen Tote fordern und mehr als eine Milliarde Menschen müssten mit teilweise schweren Krankheitssymptomen rechnen. Ein Zusammenbruch der medizinischen Versorgung, der Sozialsysteme und der Wirtschaft sei die Folge. Einen Vorgeschmack auf die Auswirkungen einer weltweiten Grippeepidemie habe vor zwei Jahren das Auftreten der Lungenkrankheit Sars gegeben.
Stöhr teilt die Befürchtung vieler Wissenschaftler, dass eine neue große Pandemie längst überfällig sei. "Die Bombe tickt", warnt der Fachmann und fügt hinzu: "Statistisch gesehen müssen wir alle 27,5 Jahre mit einer großen Grippewelle rechnen." Ein potenzieller Kandidat dafür sei eben das H5N1-Virus, das die Vogelgrippe auslöst. Dafür spreche das Ausmaß der Infektionen unter Hühnern und Enten in südostasiatischen Ländern, die Zahl der Übertragungen auf den Menschen und zwischen Menschen in dieser Region sowie die Weiterverbreitung des Virus durch Zugvögel. "Die H5N1-Epidemie in Südostasien im Jahr 2004 war ohne Beispiel", sagte Stöhr und fügte hinzu: "Niemals zuvor ist das Virus fast zeitgleich in zehn Ländern aufgetreten. Mit anderen Worten: bereits halb Asien ist betroffen." Zudem verändere sich das H5N1 rapide.
Nicht genügend Medikamente weltweit vorhanden
Einen dicken Dämpfer erteilte Stöhr Hoffnungen auf eine pharmazeutische Lösung des Problems. Die Produktionskapazitäten des einzigen Gegenmittels Tamiflu seien begrenzt. "27 Länder haben Vorräte des antiviralen Mittels angelegt. Aber alle Vorräte zusammen reichen gerade mal aus, um zwei Prozent der Weltbevölkerung zu behandeln." Fünf weitere Länder seien dabei, Vorräte anzulegen. Die Herstellerfirma arbeite daran, die Produktionskapazität gewaltig auszubauen. "Aber jede neue Nachfrage kann frühestens 2007 befriedigt werden." Einzige Hoffnung zur Vermeidung der großen Katastrophe sei es, durch das multizentrische WHO-Netzwerk zur Früherkennung von Infektionsquellen lokale Ausbrüche des Virus frühzeitig zu erkennen. Die betroffenen Regionen müssten dann sofort konsequent hermetisch abgeriegelt und die Menschen umgehend mit Tamiflu versorgt werden. Die Strategie der Isolation Betroffener und der Abschottung möglicherweise verseuchter Gebäude und Regionen habe sich bei Sars bewährt. "Die weitere Verbreitung des Erregers war nach etwa drei Monaten gestoppt." Aber trotzdem sei ein Comeback von Sars nicht ausgeschlossen. "Das Reservoir des Sars-Erregers ist noch nicht entdeckt worden." Aber die Einschränkung folgt auf den Fuß: das Vogelgrippevirus werde eher in ländlichen Gebieten ausbrechen. "Die sind aber schwer zu kontrollieren."
Stöhr befürchtet zudem, dass im Ernstfall die Medikamente nicht in den Regionen zur Verfügung stehen könnten, wo sie am dringendsten zur Eindämmung des Virus gebraucht würden. "Jede Regierung wird zunächst ihre eigene Bevölkerung schützen wollen." Elf südostasiatische Länder hatten vor zehn Tagen in Bangkok ein Netzwerk gegen die Vogelgrippe gegründet. Die Gesundheitsminister dieser Länder vereinbarten die Gründung eines Impfstoffpools, aus dem bei akuten Ausbrüchen das Medikament in allerhöchstens 24 Stunden am Ort des Ausbruchs zur Verfügung stehen soll. So soll nach dem "Feuerlöscherprinzip" eine Ausbreitung des Virus an Ort und Stelle verhindert werden. Die elf Länder wollen je fünf Prozent ihrer Vorräte in diesen Pool einbringen. Mit der Einigkeit war jedoch schon wieder Schluss bei der Frage, in welchem der Länder das zentrale Lager eingerichtet werden solle. Thailands Gesundheitsminister Suchai Charoenratanakul sagte, es gehe nicht "um den richtigen Ort, sondern den richtigen Zeitpunkt" für den "schnellen Einsatz" des Medikaments. Offen blieb auch, wie der Einsatz der Tamifluvorräte aus dem Pool im Ernstfall koordiniert werden solle.