Das weltberühmte steinzeitliche Monument Stonehenge in der Nähe von Salisbury im Südwesten Englands könnte neuen Forschungen zufolge ein komplexer Sonnenkalender gewesen sein – weit fortgeschrittener als bislang angenommen.
Laut einer am Dienstag in der archäologischen Fachzeitschrift "Antiquity" veröffentlichten Studie waren die Erbauer womöglich in der Lage, mithilfe des Steinkreises ein komplettes tropisches Sonnenjahr von 365,25 Tagen samt aller Monate, Wochen und Tage abzubilden – fast genauso lang wie die 365,2425 Tage, die in modernen Sonnenkalendern verwendet werden. Sogar für Schalttage könnte Stonehenge entsprechende Steinmarker besessen haben, wie der Archäologe Timothy Darvill von der Universität Bournemouth in Großbritannien berichtet.
Einige Forschende vermuten schon seit Langem, dass Stonehenge eine Art Kalenderfunktion hatte, bislang konnte aber keine der Theorien die Funktionsweise angemessen erklären. Jüngste Fortschritte beim Verständnis der antiken Stätte hätten nun zu den neuen Erkenntnissen geführt, schreibt Darvill.
Sarsen in Stonehenge stehen laut Davill für die Tage
Der Hauptkreis von Stonehenge wurde vor etwa 4500 Jahren errichtet. Er besteht heute aus 17 großen Steinen, die als Sarsen bekannt sind – ein Begriff, der vom mittelalterlichen englischen Wort "saracen" abgeleitet ist, das sich einstmals auf Araber bezog, dann aber für alles Heidnische stand. Leere Vertiefungen im Boden zeigen jedoch, dass der Kreis ursprünglich 30 Sarsen umfasste; die anderen wurden irgendwann weggeschafft, wahrscheinlich für den Bau anderer Gebäude oder Straßen.
Davill zufolge begann das Stonehenge-Jahr mutmaßlich mit der Wintersonnenwende – nach dem modernen Kalender der 21. oder 22. Dezember – also dem Zeitpunkt, ab dem die Tage in der nördlichen Hemisphäre wieder länger werden. Im Jahresverlauf repräsentierte jeder der 30 Sarsen einen Tag des Sonnenmonats. Jeder Monat war zudem in drei Wochen von jeweils zehn Tagen Länge unterteilt. Ihr Beginn war durch speziell gekennzeichnete Steine markiert.
Ein Sonnenjahr entsprach der Studie zufolge zwölf Durchläufen dieses Steinkreises – also 360 Tagen. Für die fehlenden 5,25 Tage habe es zusätzlich eine Art Schaltmonat gegeben: "Dieser Ausgleichsmonat aus fünf Tagen wird von den fünf Trilith-Steinen im Zentrum von Stonehenge markiert", erklärte Darvill. Sogar an den Vierteltag am Jahresende und den dadurch alle vier Jahre fällig werdenden Schalttag hätten die Stonehenge-Erbauer gedacht: Vier außerhalb des Sarsenkreises liegende Steinblöcke bilden ein Viereck und könnten als Merkhilfe für diesen Vierjahres-Rhythmus gedient haben, vermutet Darvill.
Nach Angaben des Wissenschaftlers könnte Stonehenge von alten sonnenanbetenden Religionen im östlichen Mittelmeerraum beeinflusst worden sein, etwa vom Kult des ägyptischen Gottes Ra. Zwar könnten die Einheimischen einen solchen Kalender nach Ansicht des Archäologen auch selbst entwickelt haben, aber ähnliche Zählungen für die Tage und Monate eines Jahres seien auch im alten Ägypten einige hundert Jahre vor dem Bau von Stonehenge verwendet worden.
"Ein solcher Sonnenkalender wurde im östlichen Mittelmeerraum schon um 3000 vor Christus entwickelt und von den Ägyptern um 2700 vor Christus als Kalender übernommen", schreibt Darvill. Und die Menschen im damaligen Großbritannien könnten seiner Meinung nach davon gewusst haben. So gebe es Hinweise darauf, dass es schon zur Zeit von Stonehenge Kontakte über große Distanzen hinweg gab. Darauf deuteten sowohl Isotopenanalysen von Skelettfunden als auch DNA-Vergleiche hin.
"Besonders relevant ist hier die Lebensgeschichte des Bogenschützen von Amesbury, der fünf Kilometer südöstlich von Stonehenge um 2300 vor Christus in einem einfachen Grab bestattet wurde, begleitet von einer außergewöhnlichen Reihe von Grabbeigaben, darunter einige aus Kontinentaleuropa", heißt es in der Studie. "Die Isotopenanalyse zeigt, dass er in den Alpen geboren und aufgewachsen ist und als Jugendlicher nach Großbritannien zog."
"Es gibt keine 12 in Stonehenge"
Doch es gibt auch Zweifel an Davills neuer Theorie: "Es ist eine interessante Hypothese, aber – wie jeder Versuch zu beweisen, dass Stonehenge ein Kalender war – das ist alles, was es jemals sein kann", zitiert der US-Sender NBC den britischen Archäologen Matt Leivers, der Stonehenge seit Jahrzehnten untersucht. "Es gibt keine Möglichkeit, das eine oder das andere zu beweisen."
Zudem seien zwar die Zahlen 30, 5 und 4 in Stonehenge verkörpert, aber nicht die 12, also die Zahl der Monate. "Es gibt keine 12 in Stonehenge", so Leivers. "Das scheint mir ein ziemlich großes Hindernis zu sein." Auch Darvill stellt dies in seiner Studie fest. Er vermutet jedoch, dass die zwölf Monate möglicherweise durch Steine dargestellt wurden, die inzwischen entfernt wurden.

Auch Ed Krupp, Direktor des Griffith Observatory in Los Angeles und Autor mehrerer Bücher über antike Astronomie, hält Darvills Interpretation für "völlig spekulativ". Antike Monumente versuchten oft, "kosmische Prinzipien" mit astronomischen Ausrichtungen zu verbinden, erklärt er gegenüber NBC. Aber es mache keinen Sinn, einen massiven Kalender aus unbeweglichen Steinen zu bauen, wenn viel kleinere Kalender genauso gut funktionieren würden.
"Niemand braucht sich die Mühe zu machen, ein riesiges Monument zu bauen, um die Zeitrechnung zu verfolgen", sagt er. "Das ist keine gute Investition von Ressourcen".
Quellen: Cambridge University Press, NBC, "Scinexx"