Die schwarze Kurve steigt seit April stetig an und übertrifft alle anderen bei weitem: Die Grafik des Climate Change Institute der University of Maine zeigt die tägliche Meeresoberflächentemperatur im Nordatlantik für das Jahr 2023. Am 21. Juni betrug sie 23,3 Grad Celsius. Damit hat die Wassertemperatur einen Rekord für diese Jahreszeit aufgestellt. Im Vorjahr waren es 22,4 Grad.
Besonders stark erwärmt hat sich das Wasser des Atlantiks rund um die Britischen Inseln. Das Met Office, der nationale Wetterdienst des Vereinigten Königreichs, sprach in einer Mitteilung Anfang der Woche von "Rekord brechenden Temperaturen", die derzeit im Nordatlantik herrschten.

"Der Mai 2023 ist der temperaturreichste Mai seit 1850. Aber das ist noch nicht alles. Es war auch der höchste Monat über dem Durchschnitt im Vergleich zu jedem einzelnen Monat in der Reihe", sagte Professor Stephen Belcher, leitender Wissenschaftler des Met Office.
Temperaturanstiege um bis zu acht Grad
Besonders betroffen ist laut Belcher der östliche Atlantik von Island bis in die Tropen. "Aber die Gebiete um Teile Nordwesteuropas, darunter auch Teile des Vereinigten Königreichs, gehören zu den Gebieten mit den höchsten Meeresoberflächentemperaturen im Vergleich zum Durchschnitt." Laut Daten der Europäischen Weltraumorganisation Esa liegt die Meeresoberflächentemperatur in der Nordsee fünf Grad über dem Durchschnitt – in der Ostsee sind es teilweise acht Grad.
Richard Unsworth, außerordentlicher Professor für Biowissenschaften an der Universität Swansea im Vereinigten Königreich, bezeichnete die Hitzewelle im Atlantik als "völlig beispiellos". "Sie übersteigt bei weitem die schlimmsten Vorhersagen für den Klimawandel in der Region. Es ist wirklich erschreckend, wie schnell sich dieses Meeresbecken verändert", sagte er dem US-Sender CNN.

Als Grund für diese Temperaturanomalie nennt das Met Office eine Kombination aus vom Menschen verursachtem Klimawandel und natürlichen Schwankungen im Klimasystem. "Der Klimawandel (…) erwärmt weiterhin die Oberfläche des Planeten, sowohl an Land als auch im Meer. Natürliche Schwankungen – einschließlich der Erwärmungs- und Abkühlungsphasen von El Niño bzw. La Niña – führen jedoch zu geringfügigen Abweichungen von der globalen Basistemperatur, die aufgrund des Klimawandels insgesamt ansteigt."
Mehrere Faktoren tragen zur Erwärmung bei
"Normalerweise trägt der Staub aus der Sahara zur Abkühlung dieser Region bei, indem er einen Teil der Sonnenenergie blockiert und reflektiert", erklärte Professor Albert Klein Tank vom Met Office. "Aber schwächere Winde als durchschnittlich haben die Staubmenge in der Atmosphäre der Region verringert, was zu höheren Temperaturen führen könnte." Auch schwächere Passatwinde könnten eine Rolle spielen.
All dies sei Teil der natürlichen Schwankungen des Klimasystems. "Es wird nicht davon ausgegangen, dass diese Faktoren einen durch den Klimawandel verursachten Kipppunkt darstellen, der zu einem Ausbruch der Temperaturen führt. Sie werden jedoch zu den Klima- und Wetterauswirkungen in diesem Jahr beitragen", so Klein Tank.
Dillon Amaya von der National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) in den USA nennt als Hauptursache für Temperaturschwankungen im Ozean Veränderungen in der atmosphärischen Zirkulation. Diese sei im Nordatlantik "ziemlich träge" gewesen. Normalerweise befindet sich über dem Gebiet ein subtropisches Hochdrucksystem, das die Oberflächenwinde in dieser Region bestimmt. Wenn diese Winde schwächer werden, neigen die Ozeantemperaturen dazu, sich zu erwärmen, so Amaya.
Pflanzen und Tiere durch Hitzewelle im Atlantik bedroht
Andere Forscher vermuten, dass auch eine Änderung der Vorschriften über den Schwefelgehalt von Schiffstreibstoffen zum Anstieg der Erwärmung mit beigetragen haben könnte. 2020 senkte die Internationale Seeschifffahrtsorganisation die Obergrenze für den Schwefelgehalt von 3,5 auf 0,5 Prozent, schreibt die "Los Angeles Times". Damit sollte die Luft in Häfen und Küstengebieten verbessert werden.
Doch Sulfataerosole können das Sonnenlicht von der Erde weg reflektieren und so zur Verdunkelung der Erdoberfläche beitragen, erklären die Wissenschaftler.
Der Anstieg der Meeresoberflächentemperatur im Nordatlantik hat nach Ansicht von Forschern mehrere Auswirkungen, die verheerend sein könnten. So sagt das Met Office etwa voraus, dass die Zahl der tropischen Stürme und Wirbelstürme im Nordatlantik in diesem Jahr überdurchschnittlich hoch sein wird.
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Auch für die Tier- und Pflanzenwelt könnte die Hitzewelle zu einer großen Bedrohung werden, sagt Biowissenschaftler Unsworth. "Es ist sehr wahrscheinlich, dass Tiere wie Austern, Pflanzen und Algen durch diese europäische Hitzewelle im Meer getötet werden, vor allem in flachen Gewässern, wo die Temperaturen über die Hintergrundwerte hinaus ansteigen können."
Forscher: Ozeane könnten noch bis in den November warm sein
Wärmere Ozeane verursachen auch das Ausbleichen von Korallenriffen und werden mit giftigen Algenblüten in Verbindung gebracht, die dem Wasser Sauerstoff entziehen und das Leben im Meer ersticken können. Dies hätte auch Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit vieler Menschen.
Wärmere Gewässer nehmen auch weniger Kohlenstoff auf, so dass mehr davon in der Atmosphäre verbleibt. Dies wiederum beschleunige die globale Erwärmung.
Außerdem dehnt sich das Wasser durch die Erwärmung aus, was zu einem Anstieg des Meeresspiegels führt, der durch das Abschmelzen des Eises in der Arktis und Antarktis ohnehin steigt.
Die aktuelle Hitzewelle im Nordatlantik wird nach Einschätzung der NOAA-Wissenschaftler nicht so schnell vorbei sein. Sie könnte bis in den Herbst, vielleicht sogar bis in den November andauern. Die Rückkehr des natürlichen Klimamusters El Niño verstärkt diese Befürchtung – für weite Teile der Weltmeere.
Quellen: Climate Change Institute der University of Maine, Met Office, Esa, CNN, "Los Angeles Times", "The Guardian", NBC