Taktik im Krieg "Stimmen die Annahmen, hat Putin den Krieg verloren": stern-Militärexperte zu Verlusten in der Ukraine

Ukraine-Krieg: Russlands Präsident Wladimir Putin
Ukraine-Krieg: Russlands Präsident Wladimir Putin 
© Alexei Nikolsky/ / Picture Alliance
Sehen Sie im Video: "Wenn die Annahmen stimmen, hat Putin den Krieg verloren" – stern-Militärexperte zu Verlusten in der Ukraine.


















Gernot Kramper (stern): Wenn diese Angaben, die auch von unserer NATO kommen, stimmen, dann hat Russland den Krieg verloren. Das muss man ganz klar mal so sagen. // Dann werden wir erleben, dass die Russen vielleicht gar nicht mehr vorrücken wollen im Norden, sondern die wollen eine Frontlinie aufbauen, entlang derer sie ihre überlegene Feuerkraft einsetzen können. // Alle diese Kräfte, die versuchen müssen, praktisch die Grenze nach Polen zu sichern, können woanders nicht eingesetzt werden. Dafür ist es gar nicht unbedingt nötig, dass Belarus wirklich Lemberg oder ähnlich da in den Krieg eintritt.


Hendrik Holdmann (stern): Vier Wochen Krieg in der Ukraine. Wie kommt Russlands Truppen voran? Wie steht es um die ukrainische Gegenwehr?


Gernot Kramper (stern): Man sieht ja, nach ein paar Tagen schneller Bewegung ist dieser Krieg relativ statisch geworden bzw. die Bewegungen sind sehr, sehr, sehr viel geringer. Die Frage ist nun: Wie bewerten wir das? Und dabei kommt es im Wesentlichen darauf an, welchen Informationen man vertraut und welchen man nicht vertraut. Ich will jetzt mal die gute Variante, also die für Kiew und für uns eigentlich positive Variante, kurz skizzieren. Die so sagt, sagt man in Russland, hat keine strategischen Ziele erfüllt. Nach wie vor ist Kiew nicht befreit. Es gibt unbedeutende Geländegewinne im Osten und im Süden. Kiews Truppen haben nur geringe Verluste. Dafür sind die Verluste aber der Russen außerordentlich hoch. Nicht nur die Regierung in Kiew, auch die NATO hat gestern ja eine Zahl von 40.000 Bis 50.000 Mann Verlusten genannt. Was bedeutet das? Wenn man davon ausgeht, dass die Russen etwa 15.000 Tote haben, kommen zu den Toten immer eine bestimmte Menge an schwerer Verwundeten hinzu. Also nicht einzelne Kratzer, sondern Leute, die dauerhaft ausfallen und Leute, die gefangen sind oder irgendwie verschwinden. Das kann man praktisch so ausrechnen. Also bei 14.000, 15.000 Toten hat man minimal 40.000 bis 50.000 Mann unwiederbringliche Verluste für die russische Armee. Die sind aber nur mit knapp 200.000 Mann einmarschiert: Also fehlt schon ein Viertel. Dieses Viertel verteilt sich aber auf verschiedene Truppengattungen. Wenn wir 25 Prozent Verluste annehmen, würde es bedeuten, dass die eigentlichen Fronteinheiten müssten fast 40 Prozent Verluste haben. Also fast jeder zweite Soldat ist ausgefallen, nicht unbedingt tot. Wenn diese Angaben, die auch von unserer NATO kommen, stimmen, dann hat Russland den Krieg verloren. Das muss man ganz klar mal so sagen. Wenn das stimmt, muss Kiew noch einige Zeit durchhalten. Die Verluste bei dieser Lage der Russen würden sich eher vergrößern als verringern und sie können nicht durch die Zufuhr neuer Truppen ausgeglichen werden. Das ist vollkommen unmöglich. Es sei denn, es gäbe eine Generalmobilmachung oder irgendwie so etwas. Dazu kommen Meldungen, dass Kiew in der Lage ist, nicht nur einzelne Gegenstöße zu machen, sondern angeblich nordwestlich von Kiew eine Gruppe von fast 10.000 russischen Soldaten zu umzingeln oder eventuell abzuschneiden oder dabei dabei ist. Das wären richtige operative Bewegungen. Also nicht, dass man in der Lage ist, den Gegner aus einem Rand eines Dorfes herauszudrängen, sondern sich wirklich im Gelände bewegt und solche Manöver durchführt. Wenn Kiew das kann, hat Putin definitiv ein Problem. Denn würde auf Dauer, wenn das gelingt, die ganze Nordfront zusammenbrechen und diese ohnehin, wie schon gesagt habe, 40 Prozent Verluste geschwächten Einheiten wären auch zu operativen Angriffen nicht mehr in der Lage. Die sind dann einfach zerschmettert diese Einheiten. Also die bestehen noch, können sich vielleicht auch noch verteidigen. Aber viel Staat ist damit nicht mehr zu machen. Das ist die positive Variante, wo ich noch mal sagen muss, das basiert auf den Angaben unserer offiziellen Quellen. Eine Variante. Nehmen wir mal an, das stimmt so nicht. Die Russen haben gar nicht 15000 Mann verloren, geschweige denn 45000 Mann unwiederbringliche Verluste. Weil sie verlieren ja sehr, sehr, sehr viel Material. Das sehen wir auch ununterbrochen. Aber wir sehen ja auch vieles Material fällt einfach aus, bleibt liegen. Was weiß ich. Kaputte Reifen, kaputter Motor. Man weiß das natürlich von außen nicht. Aber eins ist ganz klar: Die Besatzung ist ja nicht tot. Das jetzt nicht stimmt, kann die Lage. Das ist jetzt das "Worst-Scenario", was gar nicht gut wäre für Kiew, ganz anders sein. Wir wissen ja gar nicht, was der Kreml vorhat. Nehmen wir mal an: Putin will Kiew gar nicht unbedingt einnehmen, will Charkow gar nicht unbedingt einnehmen, sondern er will diese Städte nur bedrohen und die Vorstädte beschießen. Kiew kann es überhaupt niemals zulassen, dass die Hauptstadt verloren geht. Aber muss Putin sie überhaupt einnehmen? Geht es vielleicht nur darum, das Gros der ukrainischen Kräfte im Norden um diese beiden Städte und ihre Verteidigungslinien zu binden? Das heißt aber, dass sie im Süden und im Osten, wo bisher die Bewegung ist, nicht eingesetzt werden kann und hier besteht natürlich nach wie vor die Gefahr, dass die alle ukrainischen Kräfte, die östlich des Dnepr eingesetzt – also alles, was an diesen Separatistengebieten ist, was südlich von Charkow ist und nördlich von Mariupol, dass das abgeschnitten werden kann. Und das sind zwar riesige Flächen, aber die bieten auch wenig Deckung und es gibt nur wenige Übergänge über diesen Fluss. Und wenn das passiert, das wäre natürlich überhaupt nicht gut für Kiew. Also es ist einfach schwer zu sagen, weil wir nicht wissen, welches Spiel der Kreml spielt. Und wir nicht wirklich wissen, wie katastrophal die Lage auf Seiten der Russen ist. Also wir sind da in einer Unsicherheit, aber diese Unsicherheit wird sicher in gewisser Weise klären, zumindest in den nächsten 7, 10 Tagen. Weil entweder ist es tatsächlich so, wie die NATO und die Amerikaner annehmen, dass die Russen diese riesigen Verluste haben, dann werden sie diese Position um Kiew und Charkow herum nicht halten können. Das ist meiner Ansicht nach nicht möglich. Dann wird dieser ganze Krieg zusammenbrechen und es wird auch nicht zu einem ewigen Frontenkrieg kommen. Oder aber diese Angaben sind deutlich zu optimistisch und dann würden wir einen sehr hässlichen Krieg erleben. Dann werden wir erleben, dass die Russen vielleicht gar nicht mehr vorrücken wollen im Norden, sondern die wollen eine Frontlinie aufbauen, entlang derer sie über ihre überlegene Feuerkraft einsetzen können. Und wir gucken wie einzelne Überfälle von Infanteriegruppen aussehen. Aber die setzen riesige Batterien ein und ebnen ganze Gegenden ein mit den ukrainischen Soldaten da drin natürlich. Also das wird man in den nächsten 7 Tagen sehen, welche dieser Annahme richtig ist. Da will ich mich jetzt nicht festlegen.


Hendrik Holdmann (stern): Die Ukraine immer vor einem Szenario gewarnt, das Belarus mit in den Krieg einsteigen könnte. Wie wahrscheinlich ist das und wie würde das den Krieg verändern?


Gernot Kramper (stern): Es ist unwahrscheinlich, dass Belarus offen in den Krieg eintritt. Aber sie hätten die Möglichkeit. Und was würde diese Möglichkeit sein? Nicht irgendwelche Lücken bei den Russen zu stopfen, sondern die Grenze der Ukraine zum Westen nach Polen einfach abzuschneiden – also auf das ehemalige Lemberg vorzustoßen und die gesamte Zufuhr von Nachschubmaterial zu unterbrechen. Das müssen sie gar nicht machen. Sie müssen dann nur Panzer herumfahren lassen. Und solange die das machen, muss die Ukraine sich gegen di ese Bedrohung irgendwie wappnen. Da müssen Kräfte bereitgestellt werden, dann muss eine Abwehrposition einbezogen werden. Alle diese Kräfte, die versuchen müssen, praktisch die Grenze nach Polen zu sichern, können woanders nicht eingesetzt werden. Dafür ist es gar nicht unbedingt nötig, dass Belarus wirklich Lemberg oder ähnliche da in den Krieg eintritt. Und wir müssen eins sehen: Bislang ist es ja so, dass zum Beispiel die Straßen, aber auch viele Eisenbahnlinien noch nicht unterbrochen worden sind, um den Nachschub zu unterbrechen. Bevor man anfängt einzumarschieren, würde ich alle mal erwarten, dass wir erleben würden, dass die Eisenbahnlinien und Autobahnen und Überlandstraßen in dieser Gegend großflächig zerstört werden.

Seit vier Wochen tobt der blutige Krieg in der Ukraine. Nun hat die Nato erklärt, dass bislang 40.000 russische Soldaten gefallen sein könnten. stern-Militärexperte Gernot Kramper analysiert, warum Putin den Krieg dann verloren hätte – und warum Belarus wohl nicht in die Kampfhandlungen eingreifen wird.
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