Herr Keller, Sie mussten sich scharfe Kritik anhören, weil sie über das Abhörprogramm der Regierung berichtet haben, etwa darüber, dass die Regierung internationale Banküberweisungen im Rahmen des Swift-Verfahrens überwacht. Ist die Pressefreiheit in den USA in Gefahr?
Nein, man würde die Situation überdramatisieren, wenn man behaupten würde, die Pressefreiheit sei in Gefahr. Die freie Presse hat Probleme mit der derzeitigen Regierung und wird zudem im Land etwas missverstanden. Mit Sicherheit legt diese Regierung mehr als jede andere Regierung seit Nixon gewaltiges Gewicht auf Geheimhaltung und darauf, dass die Exekutive den Prozess der Politikformulierung kontrolliert. Nicht nur die Presse, auch der Kongress und die Justiz werden vom derzeitigen Weißen Haus mit Skepsis und Missgunst betrachtet. Das ist kein Geheimnis. Die Regierung ist voll und ganz davon überzeugt, dass die Exekutive in Zeiten, in denen das Land sich einer Bedrohung gegenüber sieht, mit weit reichenden und sogar außerordentlichen Befugnissen ausgestattet sein muss, um die nationale Sicherheit gewährleisten zu können. Die amerikanische Presse hat dagegen gegenüber den Mächtigen immer eine kritische Haltung eingenommen. Die "New York Times" hatte etwa immer ein sehr gespanntes Verhältnis zu der Regierung Bill Clintons. Aber nun wirft das Weiße Haus einige fundamentale Fragen auf, was die Legitimität der freien Presse betrifft.
Zur Person
Bill Keller, 57, ist seit Juli 2003 Chefredakteur ("Executive Director") der "New York Times". Zuvor war er unter anderem Reporter im Hauptstadtbüro der Zeitung in Washington, D.C., in Moskau und in Johannesburg. 1989 gewann er den Pulitzer-Preis für seine Berichte über den Zerfall der Sowjetunion.
In welcher Hinsicht?
Vor allem in Bezug auf Geheimhaltung. Ein Gutteil unseres Jobs als Journalisten besteht jedoch genau darin, Bürgern und Wählern bei der Entscheidung zu helfen, wie gut die Regierung das Land beschützt.
Kritiker haben Ihnen vorgeworfen, als geheim eingestufte Informationen zu veröffentlichen, vor allem als es darum ging, dass die National Security Agency (NSA) Gespräche zwischen den USA und dem Ausland abhört. Haben Sie das Gesetz gebrochen?
Ich bin kein Jurist, und es ist Sache der Richter, dies zu entscheiden. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir uns innerhalb des Rahmen des Gesetzes bewegen. Im Kern geht es jedoch um die Frage, ob wir verantwortungsvoll gehandelt haben, in dem wir diesen Artikel veröffentlicht haben. Und ich glaube, das haben wir. Kurz nachdem dieses Interview geführt wurde, hat eine Bundesrichterin in Detroit das Vorgehen der Regierung für verfassungswidrig erklärt und die sofortige Einstellung des NSA-Lauschangriffs verfügt, Red.
Wo ziehen Sie die Grenze zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und eine legitimen Anspruch der Regierung auf Geheimhaltung im Anti-Terror-Kampf?
Es gibt kein Patentrezept. Die Grenze ist nicht eindeutig. Es handelt sich um eine komplizierte Entscheidung, die von Fall zu Fall getroffen werden muss. Auf er einen Seite steht die Frage, welchen Wert es für die Öfffentlichkeit hat, von einem bestimmten Sachverhalt zu erfahren. Auf der anderen Seite steht die Frage, ob es jenen hilft, die uns schaden wollen, wenn wir Geheimnisse aufdecken. Bei dem Artikel über die Abhöraktionen ist die Gewichtung klar. In allen drei Zweigen der Regierung - in der Legislative, in der Exekutive und in der Judikative - gab es erfahrene, hochrangige Personen, die die Rechtmäßigkeit des Abhörens in Frage stellten. Genau über diese Art von Fragen bedarf es dann einer öffentlichen Diskussion. Zudem ist es nicht richtig, dass wir Geheimdienst-Quellen und Geheimdienst-Methoden durch die Veröffentlichung aufgedeckt haben. Die Terroristen - selbst die unfähigsten - wissen, dass die US-Regierung versucht, Telefongespräche und Email-Korrespondenz zu überwachen. Das ist kein Geheimnis. Das Wichtige an der Geschichte war nicht der technologische Aspekt, das waren nicht die Quellen und Methoden der Geheimdienste. Das Wichtige an der Geschichte war, dass die Regierung ohne richterliche Erlaubnis abgehört hat. Jeder weiß, dass es eine spezielle Gerichtsinstanz gibt, die unter Bedingungen der Geheimhaltung arbeitet. Sie kann die Regierung ermächtigen, Abhöraktionen vorzunehmen, wenn es dafür Gründe gibt. Dass es dieses Gericht gibt und dass dieses Gericht genau dafür da war, solche Abhöraktionen zu ermöglichen, war weithin bekannt. Was nicht bekannt war, war die Tatsache, dass die Bush-Regierung beschlossen hatte, diesen Prozess zu umgehen, ohne richterliche Erlaubnis, ohne das geheime Gericht davon zu unterrichten, und ohne wichtige Kongress-Mitglieder davon zu unterrichten.
"New York Times"
Es ist typisch für amerikanische Qualitätszeitungen, dass Chefredakteure keinen redaktionellen Einfluss auf die Meinungsseite der Zeitung nehmen kann. Nachrichtenredaktion und Meinungsseite sind strikt getrennt, um die Unabhängigkeit vor allem der Nachrichtenredaktion zu verdeutlichen. Die "New York Times" hat in den vergangenen Jahren einige Turbulenzen hinter sich gebracht, die ihre journalistische Glaubwürdigkeit untergruben. Im Jahr 2003 stellte sich heraus, dass Reporter Jayson Blair Berichte zum Teil abgeschrieben oder gefälscht oder erfunden hatte. In der Berichterstattung vor dem Irak-Krieg räumte die Zeitung Stimmen wenig Platz ein, die behaupteten, Saddam Hussein betreibe kein Programm für Massenvernichtungswaffen. Nach dem Ende des Krieges räumte die Chefredaktion schwer wiegende Fehler ein. Seit dem vergangenen Jahr nun schwelt ein beständiger Konflikt zwischen der Zeitung und der Regierung. Die "New York Times" veröffentlichte mehrere Artikel über die Maßnahmen der Regierung von US-Präsident George W. Bush im Anti-Terror-Kampf, etwa über die Lauschangriffe der National Security Agency (NSA) oder die Überwachung internationaler Finanztransaktionen über das Swift-System. Die Regierung, aber auch rechte Kritiker, warf der Redaktion vor, die USA im Anti-Terror-Krieg zu schwächen, manche sprachen von illegalem Geheimnisverrat. Die Zeitung rechtfertigte die Veröffentlichung mit dem Verweis auf das öffentliche Interesse, das diesen Vorgängen zugrunde liege. Nun entschied eine Bundesrichterin in Detroit, die Regierung habe mit ihrem Lauschangriff die Grundlagen der Verfassung verletzt und die Gewaltenteilung ausgehebelt. Sie verfügte einen sofortigen Stopp des Abhörprogramms.
Vertreter der Bush-Regierung haben die "New York Times" angegriffen. Versucht die Regierung, kritische Berichterstatter einzuschüchtern? Ich vermute, dass sie dies tut, dass es zumindest ein Teil ihrer Motivation ist. Sie versucht, Reporter einzuschüchtern. Sie versucht, Informanten einzuschüchtern. Zum Teil geht es auch darum, bei der konservativen Basis der Republikaner zu punkten. Die urbane Ostküstenzeitung "New York Times", die in einem Staat erscheint, der mehrheitlich die Demokraten wählt, ist gerade in Wahljahren ein leichtes Ziel für viele Konservative.
Auch Ihr Konkurrent, das "Wall Street Journal", hat Sie auf seiner Meinungsseite heftig wegen Ihrer Veröffentlichungs-Ethik angegriffen, vor allem im Fall des Swift-Berichts. Gibt es so etwas wie einen Krieg der Medien?
Nein. Wir erleben sicher eine Phase, in der es in der US-Medienlandschaft viel "Sturm und Drang" zu beobachten gibt. Das gesamte Arbeitsumfeld der Journalisten ist erheblich lauter und umstrittener geworden. Aber die Meinungsseite des "Wall Street Journals" ist im öffentlichen Leben Amerikas eine einmalige Einrichtung. Die Redaktion der Meinungsseite ist - und das schon seit geraumer Zeit - eine Stimme des rechten Flügels. Sie ist selbst im Verhältnis zu ihrer eigenen Nachrichtenredaktion sehr isoliert. Das "Wall Street Journal" hat die Swift-Geschichte ebenso veröffentlicht wie die "Los Angeles Times" und die "Washington Post". Aber die Redaktion der Meinungsseite des "Wall Street Journal" fand es offenbar bequemer, auf die "New York Times" einzudreschen. Was dort erscheint, ist oft beleidigend und oft dumm, aber es kommt nicht unerwartet.
Hat die Welle von Patriotismus, die auf die Anschläge des 11. September 2001 folgte, die objektive Berichterstattung erschwert?
Am 11. September 2001 war ich noch nicht in der Position, in der ich heute bin. Ich habe Kolumnen geschrieben und war deshalb etwas isoliert von den Schützengräben des amerikanischen Journalismus. Sicherlich gab so etwas wie ein natürliches Gefühl von nationaler Solidarität, ein Gefühl von Patriotismus. Aber das wird auch leicht übertrieben. Was Journalisten mehr als alles andere antreibt, ist der Wunsch, die beste Geschichte zu haben - und die Ersten zu sein, die sie haben. Wenn die Geschichte dann der populären Sicht der Dinge zuwiderläuft, ist das in Ordnung. Die meisten Reporter, die ich kenne, denken nicht zuerst darüber nach, ob den Lesern die Geschichte gefällt, sondern ob die Leser die Geschichte beachten.
Amerika wieder entdecken, die Serie
Wie hat sich Amerika seit dem 11. September 2001 verändert? Welche Spuren hat der "Krieg gegen den Terror" in jenem Land hinterlassen, das wie kaum ein anderes für Demokratie und politische Freiheit steht? stern.de-Mitarbeiter Florian Güßgen berichtet drei Wochen lang regelmäßig von seiner persönlichen Wiederentdeckung Amerikas - aus Boston im liberalen Bundesstaat Massachusetts, aus Springfield im konservativen Missouri und aus Washington, D.C. und New York City. Unterstützt wird er dabei durch eine Fellowship des American Council on Germany mit Sitz in New York.
Die Berichterstattung der US-Medien über den Irak-Krieg fand Beachtung. Aber schon bald nach dem Ende des Krieges haben wichtige Medien, darunter die "New York Times", erhebliche Fehler eingestanden.
Das betraf nicht die Berichterstattung über den Krieg, die sehr gut war, sondern die Berichterstattung in der Zeit vor dem Krieg. Im Vorfeld des Krieges wurden Berichte veröffentlicht, die zu gutgläubig waren, die zu sehr willens waren zu glauben, dass es Beweise für die Existenz eines irakischen Programms für Massenvernichtungswaffen gebe. Ich glaube nicht, dass diese Artikel einer ideologischen Grundhaltung oder einem patriotischen Gefühl entsprangen. Sie entsprangen dem Wunsch der Journalisten, die ersten zu sein, einen "Scoop" zu haben. Manchmal sind diese Geschichten voreilig gedruckt, auf die erste Seite geworfen worden, ohne zuvor vollständig geprüft worden zu sein.
Hat die polarisierte politische Debatte in den USA, zwischen der Linken und der Rechten, die zunehmend auch über Blogs ausgetragen wird, die Arbeit von Journalisten erschwert?
Dies hat die Arbeit sicher erschwert. Ich habe das Land noch nie so polarisiert erlebt. Es ist zwar sehr schwer zu messen, wie stark die extreme Linke oder die extreme Rechte wirklich ist. Aber auf der Grundlage einer anekdotischen Beweisführung ist die geistig offene Mitte zusammengeschrumpft, und auf der Linken und der Rechten gibt es viele Menschen, die nur jene Nachrichten lesen wollen, die ihre Vorurteile bestätigen. Aber unser Job ist es nicht, die Vorurteile der Menschen zu bestätigen. Unser Job ist es, so zu informieren, dass jeder sich sein eigenes Urteil bilden kann. Fast alles, was wir schreiben, wird mittlerweile von den Rändern auf der Rechten und der Linken belagert. Das lenkt ab, das nervt und manchmal verwirrt es, zumal wir in den vergangenen Jahren wahrscheinlich härter betroffen waren als andere Medien in den USA, einfach deshalb, weil wir die "New York Times" sind. Mittlerweile haben wir jedoch bessere Filtermechanismen entwickelt, die es uns ermöglichen, nur jene Kritik zu beachten, die ehrlich gemeint und wichtig ist, die darauf abzielt, unsere Arbeit zu verbessern. Wir trennen diese Art von Kritik von jener Kritik, die von wütenden Parteigängern geäußert wird.
Ihre Zeitung hat offenbar auch wirtschaftlichen Probleme. Die Aktie ist abgestürzt, 2002 kostete sie noch etwas über 50 Dollar, heute ist sie nur noch rund 22 Dollar wert. Sie mussten Personal entlassen. Bedeutet diese Entwicklung auch, dass die Nachfrage nach der Art von Journalismus schwindet, den die "New York Times" verkauft?
Nein. Das tut sie nicht. Zunächst: In der Redaktion haben wir niemanden entlassen. Wir mussten jedoch auf der Verlagsseite des Unternehmens Leute entlassen. Aber niemand ist unfreiwillig gegangen. Der Personalabbau ist über natürliche Abgänge erfolgt, über Frühpensionierungen etwa. Das ist ein wichtiger Unterschied hinsichtlich der Moral der Zeitung. Diese Entwicklung bedeutet jedoch nicht eine schwindende Nachfrage nach Qualitätsjournalismus. Wenn Sie die Leser unserer Zeitung und die Leser unserer Online-Ausgabe zusammenzählen, dann ist der Markt für einen Journalismus, wie ihn die "New York Times" bietet, größer denn je. Die Entwicklung zeigt jedoch, dass wir uns in einem Prozess eines langen, schrittweisen und schwierigen Übergangs befinden von einer Welt, die bestimmt wird von gedruckten Zeitungen, in eine Welt, die bestimmt wird von digitalen Medien. Und die Wirtschaftlichkeit der digitalen Medien ist noch eine Unbekannte. Die Erträge unserer Online-Augabe wachsen jährlich um 30 Prozent, aber sie sind von einem sehr geringen Niveau gestartet. Wir müssen nun einen Weg finden, der dazu führt, dass dieser digitalisierte Journalismus genug abwirft, um eine Nachrichten-Organisation mit 1200 Mitarbeitern zu tragen. Ich bin dabei Optimist. Im traditionellen Zeitungsformat mussten wir einige Werbeeinbußen hinnehmen, aber Magazin-Beilagen haben uns viel eingebracht. Die Online-Ausgabe ist jedoch unsere Zukunft.