Krieg in der Ukraine 2023 war für die Ukraine schwer, 2024 wird nicht besser

Kampfpanzer der ukrainischen 10. Mountain Assault Brigade
Kampfpanzer der ukrainischen 10. Mountain Assault Brigade
© Verteidigungsministerium der Ukraine
Mit großen Hoffnungen ging die Ukraine in das Jahr 2023, erfüllt haben sie sich nicht. Die Gegenoffensive blieb stecken, großflächige Geländegewinne aus. Im kommenden Jahr drohen nun noch weitere Probleme.

Das Jahr 2022 endete voller Hoffnung für die Ukraine. Es war gelungen, den russischen Angriff zu stoppen und die Besetzung der Hauptstadt zu verhindern. Danach ging es für die Russen nur zurück. Im Norden mussten sie ihre Eroberungen wegen hoher Verluste aufgeben. Östlich von Charkiw brachte ein überraschender Durchbruch die Invasoren dazu, Hals über Kopf zu fliehen. Dann mussten die Russen ihren großen Brückenkopf östlich des Dnjepr räumen, weil sie ihre Truppen nicht versorgen konnten.

Diese Erfolgsserie sollte im Jahr 2023 weitergehen – nun im großen Maßstab. Das ukrainische Militär wurde mit westlichen Waffensystemen ausgerüstet, womit es kein Problem sein sollte, die demoralisierten Russen zu schlagen. Dachte man. 

Inzwischen behauptet auch der größte Optimist nicht mehr, dass die ukrainische Gegenoffensive ein Erfolg war. Anstatt die Russen ins Meer zu treiben, gelangen den Ukrainern einige Einbrüche in das russische Stellungssystem. An nur einer Stelle wurde die erste russische Hauptkampflinie eingedrückt, der Rest der Kämpfe blieb im Vorpostenfeld stecken. Die fehlgeschlagene Gegenoffensive ist aber nur eines der Probleme der Ukraine, für die das Jahr 2024 verhängnisvoll werden könnte.

An der ganzen Front unter Druck 

Zum Jahreswechsel sieht sich Kiew entlang der gesamten Front in die Defensive gedrängt. Langsam, doch unaufhörlich, arbeiten die Russen sich voran. Die Eroberungen im Einzelnen sind unspektakulär. Hier eine Baumreihe, dort eine zerschossene Siedlung, woanders eine Höhenkuppe. Die Reihung macht die kleinen Vormärsche so gefährlich. Unaufhörlich schmilzt die ukrainische Front ab. Ebenfalls erschreckend, dass die Russen diese Angriffe trotz ihrer Verluste fortsetzen können. Geht das in den Winterwochen weiter, wird Kiew alle Eroberungen des Sommers wieder verlieren. Die beiden Vorstöße bei Klischtschijiwka südlich von Bachmut und bei Robotyne werden dann nicht als Sprungbrett für irgendwelche offensiven Operationen im Sommer 2024 dienen.

Bodenoffensive 2024

Auffällig ist auch, dass überhaupt nicht mehr von ukrainischen Bodenoffensiven die Rede ist. Denn sollte eine erneute Gegenoffensive geplant werden, müsste schon jetzt das Material dazu bereitgestellt werden. Die abgekämpften Einheiten der Gegenoffensive 2023 müssten im großen Maßstab neu mit Kriegsgerät versehen werden. Es müsste jetzt über neue Lieferungen an Kampfpanzern, Schützenpanzern und Artillerie diskutiert werden. Wenn das nicht geschieht, bleiben die ukrainischen Truppen in der Defensive. 

Diese Form der Abnutzungsschlacht kann die kleine Ukraine nicht gewinnen. Russland hat seine Kriegsproduktion hochgefahren und wird sie weiter steigern. Dazu wird Moskau 2024 nicht nur Munition, sondern auch Waffensysteme aus Nordkorea erhalten. Kiew ist bei allen Ausgaben auf die Hilfe und das Wohlwollen der Verbündeten angewiesen, der Kreml hingegen verfügt über volle Kassen.

Betrachtet man das Material, kann Kiew den Krieg nur weiterführen, wenn der Westen 2024 noch mehr hilft, als bisher geschehen. Dazu müssten die Unterstützerstaaten die Neuproduktion von Kriegsgerät massiv ankurbeln, denn ihre Lager sind weitgehend leergeräumt. Angesichts einer schwierigen Wirtschaftslage und eigener Haushaltsprobleme wird das nicht leichtfallen. Die USA werden 2024 vom Wahlkampf bestimmt. Unabhängig vom Ausgang der US-Wahl wird es schwerfallen, im Wahljahr große Lasten für die Ukraine zu übernehmen. Vor allem dann, wenn das Publikum daheim nicht mit Siegesmeldungen gewonnen werden kann. Ob die Europäer und speziell Deutschland diese Lücke schließen können oder auch nur wollen, ist derzeit fraglich.

Drängendes Rekrutenproblem

Kiew hat nicht nur Probleme, das Material aufzufüllen, es fällt auch schwerer, neue Rekruten auszuheben. Das Potenzial an überzeugten Freiwilligen dürfte nach fast zwei Jahren Krieg erschöpft sein. Wer aus freien Stücken kämpfen will, hat sich bereits gemeldet. Grundsätzlich müsste es zwar möglich sein, das Militär weiter aufzustocken, denn die Ukraine ist ein Land mit mehr als 40 Millionen Einwohnern. Allerdings kontrolliert die Regierung in Kiew nicht alle Gebiete, und viele Männer haben sich dem Wehrdienst durch die Flucht ins Ausland entzogen. Kiew wird versuchen, Druck auf die Flüchtigen auszuüben, um sie zu überzeugen, "freiwillig" ins Land zurückzukehren und an die Front zu gehen. Mit Gewalt werden die EU-Länder die Wehrunwilligen kaum in die Ukraine abschieben. Dazu rührt das Rekruten-Problem an ein Tabu, denn es erinnert daran, dass keineswegs alle Ukrainer das Land mit der Waffe verteidigen wollen. Dennoch muss Kiew seinen Mangel an Personal lösen. Es sollen neue Brigaden aufgestellt werden, dazu müssen die Verluste ersetzt werden, und die Stimmen werden lauter, dass die Soldaten, die seit fast zwei Jahren an der Front stehen, abgelöst werden.

Schläge in der Tiefe 

Es fällt derzeit schwer, an der Front Chancen für Kiew zu erkennen. In der letzten Zeit erzielte die Ukraine Erfolge, wenn sie Distanzwaffen wie die Storm Shadows oder Raketen wie die ATACMS einsetzen konnte. Mit diesen weitreichenden High-Tech-Waffen kann Kiew wertvolle Ziele tief im Hinterland der Russen angreifen. Einzelne Treffer können großen Schaden anrichten, etwa wenn Schiffe der russischen Flotte zerstört werden. Die Hoffnung liegt darin, die russische Dampfwalze nicht mit Masse, sondern mit überlegener Technik lahmzulegen. 

Die Bestandteile dazu sind die bereits erwähnten Missiles/Raketen mit hoher Reichweite. Dazu kommen Kampfflugzeuge vom Typ F-16, die die Verluste an ukrainischen Jets ausgleichen sollen und die den modernen russischen Maschinen ebenbürtig sind. Und eine wirkungsvolle Luftverteidigung, um die russische Dominanz im Luftraum hinter der Frontlinie zu beenden, etwa durch die Lieferung weiterer Patriot-Systeme. 

All das wird nicht unbedingt ausreichen, die Russen am Boden zurückzuwerfen, aber es würde Putins Abnutzungs-Kalkül zerstören. Dem Kreml soll bewusst werden, dass er nicht siegen und den Krieg in der Ukraine nicht beliebig in die Länge ziehen kann. Die Gefahr liegt allerdings darin, dass der Westen – mal wieder – zu spät und zu wenig liefert. Dass die Menge an Jets, Missiles und Luftabwehrbatterien für die Aufgabe nicht ausreicht. Und die Russen nach den ersten Rückschlägen Zeit bekommen, sich an die veränderte Lage anzupassen und der neuen Bedrohung zu begegnen.