"Roe v. Wade" in Gefahr Das drohende Aus des Abtreibungsrechts versetzt die USA in Alarm – und rückt in den Fokus der Midterms

Eine Frau protestiert mit einem "Nie wieder"-Schild gegen das geplante Aus des Abtreibungsrechts
Eine Frau protestiert mit einem "Nie wieder"-Schild gegen das geplante Aus des Abtreibungsrechts
© Nick Otto / AFP
Die anstehenden Midterm-Wahlen in den USA haben über Nacht ein neues Spitzen-Thema bekommen: das Recht auf Abtreibungen. Nachdem der Supreme Court den Leak bestätigt hat, weiten sich die Proteste im ganzen Land aus.

In den USA herrscht Alarmbereitschaft. Seit ein durchgesickerter Entwurf des Obersten Gerichtshof das Ende des Abtreibungsrechts ankündigt, sind im ganzen Land Proteste ausgebrochen. Das Nachrichtenportal "Politico" hatte am Montagabend einen Mehrheitsentwurf des Supreme Court veröffentlicht, der das 1973 im Grundsatzurteil "Roe v. Wade" verankerte Recht auf Schwangerschaftsabbrüche aufheben würde. Infolgedessen gingen in Washington, New York, Boston, Los Angeles und Seattle tausende Menschen für und gegen das geplante Urteil auf die Straße.

Am Dienstag bestätigte der Oberste Richter John Roberts die Echtheit des umstrittenen Dokuments, betonte jedoch zugleich, dass die Entscheidung noch nicht endgültig sei. Doch auch auf politischer Ebene hat das Thema längst Feuer gefangen. Rund sechs Monate vor den entscheidenden Midterm-Wahlen versuchen beide Seite die aufgeladene Stimmung in der Bevölkerung zu nutzen. Während sich die Republikaner durch das erzkonservative Urteil beflügelt sehen und die Ausweitung restriktiver Abtreibungsgesetze in Angriff nehmen, hoffen die Demokraten darauf, möglichst viele Wähler:innen für den Schutz von Frauenrechten zu mobilisieren.

Republikaner planen "Post-Roe-Ära" - neue Abtreibungsgesetze auf dem Vormarsch

Für die Republikaner kommt die Nachricht über das geplante Aus von "Roe v. Wade" genau zum richtigen Zeitpunkt. Ohne die schützende Hand des Obersten Gerichtshofs stünde es den einzelnen Bundesstaaten frei, ihre eigenen Beschränkungen oder Schutzmaßnahmen des Abtreibungsrechts durchzusetzen. Einige republikanische Gouverneure fackelten nicht lange und kündigten noch am Dienstag Pläne an, die Gesetze in ihren Staaten weiter zu verschärfen – oder Schwangerschaftsabbrüche vollständig zu verbieten – sobald das endgültige Supreme-Court-Urteil in den nächsten zwei Monaten gefällt ist.

So unterzeichnete der Gouverneur von Oklahoma, Kevin Stitt, ein ähnlich striktes "Herzschlag-Gesetz" wie in Texas und schrieb auf Twitter zur Begründung, die vier Millionen Menschen in seinem Bundesstaat seien mit großer Mehrheit für den Schutz des ungeborenen Lebens. Die umstrittene Regelung verbietet Schwangerschaftsabbrüche, sobald sich bei einem Fötus der Herzschlag feststellen lässt. Dies kann bereits nach rund sechs Wochen sein, wenn manche Frauen noch gar nicht wissen, dass sie schwanger sind.

Auch die "roten" Bundesstaaten Arizona, Georgia, Michigan, Texas und Wisconsin haben bereits verschärfte Abtreibungsgesetze in den Startlöchern. In Georgia machte der republikanische Gouverneur Brian Kemp mit Blick auf die Vorwahlen Stimmung für ein ähnliches "Herzschlag-Gesetz". "Wir sind die Stimme all jener Menschen, die da draußen sind und dies seit Jahrzehnten in den Schützengräben tun, und wir sind froh, mit ihnen im Kampf zu stehen", sagte Kemp in einem Radiointerview. In South Dakota kündigte die Gouverneurin und Republikanerin Kristi Noem an, eine Sondersitzung einzuberufen, um Abtreibungen in ihrem Staat zu verbieten. Sollte "Roe v. Wade" fallen, wollen einer Analyse des "Guttmacher Institutes" zufolge mindestens 26 US-Bundesstaaten weitgehende Abtreibungsverbote einführen.

Schwung für Blau: Demokraten wollen Wähler mobilisieren

Durch das demokratische Lager rollt seit Montagabend hingegen eine Welle der Empörung. US-Vizepräsidentin Kamala Harris fand besonders deutliche Worte. "Wie können sie es wagen, zu versuchen, Frauen ihre Rechte und Freiheiten zu verweigern", sagte sie - und forderte: "Lasst uns mit allem, was wir haben, kämpfen!" US-Präsident Joe Biden verkündete, sich höchstpersönlich dafür einzusetzen, dass ein landesweites Gesetz zum Schutz des Abtreibungsrechts "verabschiedet und unterzeichnet" werde. Doch ohne die Auflösung der umstrittenen "Fillibuster-Regel" sieht es für seine Demokraten im Senat nicht danach aus, als könnten sie für so ein Gesetz eine Mehrheit zusammenbekommen.

Stattdessen setzen viele Demokraten ihre Hoffnung darauf, dass die Nachricht, die das Land wie ein Schlag getroffen hat, mehr Menschen für die anstehenden Wahlen im November mobilisieren wird. Besonders jene, die das Recht auf Abtreibung als gegeben gesehen haben sowie diejenigen, die von der bisherigen Politik der Biden-Regierung enttäuscht sind und nicht vorhatten, wählen zu gehen. "Die Leute waren besorgt über die mangelnde Energie der Wähler in den Midterms und dass sie nicht zur Abstimmung kommen würden – nun hat uns der Supreme Court gerade einen Grund für die Menschen zum Wählen gegeben", bringt es die demokratische Abgeordnete Susan Wild auf den Punkt.

Vor den Demokraten liegt viel Überzeugungsarbeit

"Wir werden mit allem, was wir haben, zurückschlagen, um sicherzustellen, dass die Republikaner für die unerbittlichen Angriffe ihrer Partei geradestehen müssen, aber wir können das nicht ohne Sie tun", heißt es in einer offiziellen Rundmail der demokratischen Partei an ihre Unterstützer:innen.

Doch vor den Demokraten liegt eine Menge Überzeugungsarbeit. Viele sogenannte "Independent Wähler:innen" haben Präsident Biden längst den Rücken gekehrt und auch in vormals "blauen Hochburgen" zeigen sich Schwierigkeiten. Deswegen warnen bereits einige Politikstrategen davor, dass selbst so etwas wie der historische Sturz des Abtreibungsrechts nicht unbedingt den Weg für die demokratische Partei ebnet. "Die derzeit verbreitete Meinung ist, dass dies den Demokraten hilft, weil es die Wahlbeteiligung ankurbeln wird, aber es könnte sicherlich auch die Wahlbeteiligung für Basis-Republikaner ankurbeln", meint Glen Bolger, ein republikanischer Stratege. "Generell konzentrieren sich die meisten Wähler zum Beispiel auf die Wirtschaft und da dominiert momentan natürlich die Inflation."

Für den "blauen Schwung" spricht jedoch, dass die Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner Umfragen zufolge entschieden gegen eine Aufhebung des Grundsatzurteils "Roe v. Wade" ist. Laut einer aktuellen Umfrage von "Washington Post" und "ABC" sprechen sich 54 Prozent der Befragten für einen Erhalt des Abtreibungsrechts aus, während nur 28 Prozent finden, dass dieses aufgehoben werden sollte.

Proteste breiten sich in den ganzen USA aus

Unterdessen haben die Wut und die Bestürzung über das geleakte Supreme-Court-Urteil Proteste im ganzen Land entfacht. In Städten wie Washington, New York, Boston, Atlanta, San Francisco und Seattle gingen mehrere Tausend Menschen für das Recht auf Abtreibung auf die Straße. Schlachtrufe, wie "Mein Körper, meine Wahl" und "Es ist Zeit, Aufzustehen" schallten durch die Menge. Auf zahlreichen Plakaten war "Nie wieder", "Frauenfeindlichkeit tötet mehr Menschen als Abtreibung" und "Stoppt den Krieg gegen Frauen" zu lesen.

Bei einer Kundgebung in Manhattan sorgte die New Yorker Generalstaatsanwältin Letitia James für Schlagzeilen, indem sie öffentlich machte, dass sie selbst vor rund 20 Jahren einen Schwangerschaftsabbruch hatte. In Los Angeles kam es nach zunächst friedlichen Demonstrationen am späten Dienstagabend zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Dabei sei ein Beamter verletzt worden, hieß es. Medienberichten zufolge setzten die Polizisten Schlagstöcke gegen einige Demonstrierende ein. Insgesamt blieben die Proteste jedoch friedlich.

Und vieles spricht dafür, dass sie so schnell nicht abreißen werden. "Früher hätte ich gesagt, dass sie das Recht auf Verhütung niemals wegnehmen werden. Doch daran glaube ich nicht mehr", legt die Demokratin Susan Wild den Finger in die Wunde.

Besonders für ärmere Frauen und Minderheiten wäre das Aus von "Roe v. Wade" eine Katastrophe. Während viele für einen Schwangerschaftsabbruch in einen liberaleren Staat fahren dürften, wächst die Sorge, was mit jenen passiert, die sich das nicht leisten können. Denn Abtreibungen dürften in einem "Post-Roe-Amerika" kaum weniger werden – aber stattdessen gefährlicher.

Quellen: "NY Times", "Politico", "Washington Post", "CNN", mit AFP-Material

tkr