Ukraine-Krieg Abzug aus Cherson: Ist das eine Niederlage für Putin? Nein, sagt der Kreml

Cherson nach Abzug Russlands
Allein unterwegs in Arkhanhelske, einem mittlerweile befreiten Ort in der Region Cherson.
© Bulent Kilic / AFP
Nach Angaben Moskaus hat sich Russland vollständig aus der Region Cherson im Süden der Ukraine zurückgezogen. Die Menschen dort feiern das Ende der Invasion. Im Westen wird der Abzug als Niederlage gesehen, für den Kreml bleibt das Gebiet russisch. 

Russland hat seine Truppen nun "vollständig" aus der südukrainischen Region Cherson abgezogen, wie der Kreml bekanntgab. Eine Niederlage für die Moskauer Führung aber sei das nicht, sagte Regierungssprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax. Zumal das Gebiet weiter zu Russland gehöre: "Dieser Status ist per Gesetz bestimmt und gefestigt. Hier gibt es keine Änderungen und kann es keine geben", so Peskow.

Hupkonzerte in Cherson

Nach dem Rückzug der Invasionstruppen auf das andere, das linke Ufer des Dnipro (oder auch Dnepr) haben die verbliebenen Einwohner mit ukrainischen Flaggen und Hupkonzerten gefeiert. Bilder zeigten, wie die blau-gelbe Fahne der Ukraine wieder auf dem Gebäude der örtlichen Gebietsverwaltung gehisst wurde. Ukrainische Soldaten, die sich bereits am Stadtrand befanden, wurden von den Menschen enthusiastisch mit Umarmungen und Beifall begrüßt.

Zum Abzug der russischen Soldaten gibt es mehrere Deutungen: Durch die Ende August gestartete ukrainische Gegenoffensive war der Druck zu groß geworden. Mit vom Westen gelieferten Artilleriegeschützen großer Reichweite beschoss Kiew wochenlang ununterbrochen russische Munitionslager und Nachschublinien in der Region. Auch wurden immer häufiger prorussische Kader gezielt getötet. "Der Feind hatte keine andere Wahl als zu fliehen", sagte Oleksij Gromow vom ukrainischen Generalstab. Durch den Dauerbeschuss wurde es zudem immer schwieriger, die Truppen des Kremls zu versorgen.

Wer hat die Antonowski-Brücke zerstört?

  • Die russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti veröffentlichte Aufnahmen von russischen Militärfahrzeugen, die Cherson über die strategisch wichtige Antonowski-Brücke verließen. Mehrere russische Berichterstatter deuteten an, dass die Brücke danach zerstört worden sei. Dabei blieb allerdings unklar, ob sie von der russischen Armee gesprengt oder von ukrainischen Angriffen getroffen worden sein sollte.
  • Auch Sicht Moskaus ermöglicht die Aufgabe Chersons ihren Streitkräften, sich hinter der natürlichen Barriere des Dnipro zu verschanzen, was den Ukrainern das Vorrücken erschweren würde. Moskau will sich nach schweren Verlusten auch Zeit lassen, um die seit September einberufenen Soldaten auszurüsten und auszubilden - möglicherweise für eine neue Offensive nach dem Winter.
  • Die Stadt war das erste größere urbane Zentrum, das die russischen Streitkräfte seit Beginn der "militärischen Spezial-Operation" am 24. Februar einnehmen konnten. Es war gleichzeitig die einzige russisch kontrollierte Regionalhauptstadt in der Ukraine. Für Moskau ist die Region strategisch von hoher Bedeutung, um die Offensive in Richtung Mykolajiw und zum Schwarzmeerhafen Odessa fortsetzen zu können. Darüber hinaus beherbergt Cherson den Kachowka-Staudamm, der die von Russland annektierte Halbinsel Krim mit Wasser versorgt. 
  • Manche Beobachter wollen auch nicht ausschließen, dass der Kreml mit dem Rückzug testen will, wie die russische Bevölkerung auf ein unvorteilhaftes Ende der "militärischen Spezialoperation" reagiert, wie der Krieg in Russland offiziell genannt wird. Vertreter der US-Regierung ziehen deshalb in Betracht, dass nun die Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau wieder aufgenommen werden könnten.

Russische Hardliner nehmen Rückzug hin

Bislang berichten die russischen Sender kaum über den Abzug – wie bei vielen schlechten Nachrichten von der ukrainischen Front. Im Gegensatz zu früheren russischen Rückschlägen stimmten die kremltreuen Hardliner die Aufgabe des Gebiets weitgehend zu und hielten sich mit Kritik an der militärischen Führung zurück. Sowohl Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow als auch der Anführer der mächtigen paramilitärischen Gruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, sprachen von einer schwierigen, aber notwendigen Entscheidung.

"Putin stand vor der Wahl, ein Kontingent von rund 20.000 Mann für einen aussichtslosen Abwehrkampf zu opfern, um so den Moment einer weiteren Schmach hinauszuschieben, oder einen Schlussstrich zu ziehen. Die zweite Option ist eindeutig die vernünftigere. Dass Putin diese Realität akzeptiert, ist ein Beleg dafür, dass er für rationale Argumente weiterhin empfänglich ist", schreibt die "Neue Zürcher Zeitung".

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Und die Londoner "Times" merkt an: "Dieser Krieg kann dadurch beendet werden, dass Russland ihn verliert, und die Ukraine ist durchaus in der Lage, diese Niederlage herbeizuführen. Sie hat eindrucksvoll gezeigt, dass der Weg zum Frieden darin besteht, Putin keinerlei Spielraum zu lassen. Er muss besiegt werden und jede Hoffnung aufgeben, die territoriale Beute seiner Aggression behalten zu können."

DPA · AFP
nik