Die "New York Times" bezeichnet, das, was in Cherson derzeit geschieht als Moskaus "Zugeständnis an die militärische Realität". Dass die Ukrainer die strategisch und symbolisch enorm wichtige Stadt zurückerobern würden, galt unter Beobachtern bloß als Frage der Zeit. Dementsprechend kam die Nachricht am Mittwoch, dass sich die russischen Besatzer auf die aus der Stadt und auf die andere Seite des Flusses Dnjepr zurückziehen würden, wenig überraschend. Was hingegen sehr wohl verwundert hat: Der Kreml gab die Niederlage offen zu – ein Novum in der bis dato auf Leugnen und Blenden getrimmten Kriegspropaganda.
Eine choreographierte Veranstaltung
"Wir werden die Leben unserer Soldaten und die Kampfkraft unserer Einheiten sichern" – sagte General Sergej Surowikin in der offensichtlich choreographierten Sitzung der Militärführung, die im russischen Staatsfernsehen übertragen wurde. Cherson sei einfach nicht mehr hinreichend zu versorgen, erklärte der Oberste Kommandeur der russischen Streitkräfte in der Ukraine (Was militärisch hinter dem Manöver steckt, lesen Sie hier).
Putin selbst ließ sich bei der Verkündung des Desasters freilich nicht blicken – obwohl nur er den Befehl hatte geben können. Dass man die erste und bis dato einzig kontrollierte Regionalhauptstadt, (von der der Kremlchef noch vor wenigen Wochen gesagt hatte, sie werde "für immer" zu Russland gehören) aufgeben muss, dafür mussten stattdessen Verteidigungsminister Sergej Schoigu und der Generalstab zu Kreuze kriechen. Schoigu nahm sogar das Wort "Rückzug" in den Mund, vor dem sich der Kreml bisher tunlichst weggeduckt hatte. Ja, die Führung gab sich reichlich Mühe, die Katastrophe herunterzuspielen. Schwer zu durchschauen war das Schauspiel aber nicht.
Während er auf einer unscharfen Karte der Ukraine die Truppenbewegungen zu erklären versuchte, führte Surowikin den Dauerbeschuss durch die Ukrainer, Probleme bei den Grenzkontrollen und die Gefahr einer Überflutung der Region als Hauptgründe für den Abzug an. Die Truppen würden sich nun darauf konzentrieren, das Ostufer des Dnjepr zu halten. Surowikin hatte bereits kurz nach seiner Berufung vor rund drei Wochen erklärt, dass er womöglich "schwierige Entscheidungen" zu treffen habe. Sogar der Hardliner unter den Hardlinern, Ramsan Kadyrow, habe das Unausweichliche anerkannt, berichtet der kremlkritische russische Onlinezeitung "Meduza". "Nach Abwägung aller Vor- und Nachteile hat General Surowikin eine schwierige, aber richtige Entscheidung getroffen", habe der Machthaber der Teilrepublik Tschetschenien erklärt.
Nationalisten, Hardliner, Kremlflüsterer: Sie sind Putins Kriegstreiber

Der Kreml kann Niederlagen nicht länger verbergen
Seit Invasionsbeginn hatte es der Kreml immer vermieden, Niederlagen beim Namen zu nennen. Stattdessen hatte die Militärführung unter Verteidigungsminister Sergei Schoigu jede noch so schwammige Formulierung genutzt, um Rückschläge herunterzuspielen. Ob nach der gescheiterten Blitzoffensive auf Kiew oder während der chaotischen Flucht aus Charkiw: Die russischen Streitkräfte zogen sich nie zurück, sie "formierten sich neu", sie "verlagerten" die Einsatzschwerpunkte. Die Lieblingsvokabel: "Umgruppierung".
Hohe Verluste, Verteidigung statt Angriff: Dass der Krieg alles andere nach Plan läuft, kann der Kreml trotz massiver Zensur und Propaganda-Dauerbeschallung schon lange nicht mehr vollständig verschleiern. Eine wichtige Rolle in der "Aufklärung" der Bevölkerung spielen Militärblogger mit teils Millionen Followern, vor allem auf Telegram. Diese "Militärinfluencer" waren ursprünglich vom Kreml geduldet worden, berichteten sie doch über weite Strecken voller Eifer über die "Spezialoperationen".
Doch macht sich auch unter den kremlffreundlichsten Bloggern Unzufriedenheit breit – die sie im Gegensatz zu den staatlich kontrollierten Medien auch "unabhängig" äußern. Ein bekannter Account sprach von einem "schwarzen Kapitel in der Geschichte der russischen Armee". Mit seiner Politik der vorgetäuschten Transparenz versucht man in der Führungsriege offenbar, die Informationshoheit ein Stück weit zurückzugewinnen ohne dabei Komplettversagen zugeben zu müssen. Ein Kompromiss in Sachen Krisenkommunikation.
Laut einer "Meduza"-Quelle soll der Kreml bereits Anfang des Monats den Befehl gegeben haben, die "öffentliche Meinung" auf einen Rückzug aus Cherson vorzubereiten. Es seien explizit Handbücher für Propagandisten verfasst worden, laut denen die Front hier "in der gegenwärtigen Phase die schwierigste ist" und dass "die russischen Truppen versuchen, das Leben von Zivilisten und Personal zu retten". Von Kiew, so berichtet "Meduza" weiter, solle man behaupten, dass es "Zehntausende der eigenen Leute und andere" in den Tod schicke.
Über das Ausmaß der Niederlage in Cherson täuscht kein Schönreden hinweg
"Das Leben und die Gesundheit der Soldaten der Russischen Föderation waren immer eine Priorität", sagte Schoigu in der Fernsehübertragung. Daran lässt sich stark zweifeln. Angesichts der massiven Verluste hatte Moskau immer wieder mehr Männer in die Ukraine verlegt. Allein im Zuge der Teilmobilisierung vor wenigen Wochen hatte Putin mehr als 200.000 weitere Russen in seinen Angriffskrieg gezwungen. Seitdem häufen sich Berichte, wonach die Zwangsrekruten nach einer sehr kurzen oder sogar mit fehlender Ausbildung an die Front geschickt wurden.
Wie die BBC berichtet, rechnen die USA bis heute mit rund 200.000 toten Soldaten auf beiden Seiten. Moskau nutzt inzwischen ganz unverhohlen auch die Männer der "Schattenarmee" Gruppe Wagner. Die Söldner kämpfen Seite an Seite mit regulären russischen und pro-russischen Verbänden (mehr dazu lesen Sie hier). Obwohl Wagners Rolle in Putins Feldzug kaum zu leugnen ist, tut der Kreml weiterhin genau das. Praktisch – schließlich muss der Kreml für Soldaten, die gar nicht existieren, auch keinen Totenschein ausstellen.
Die Behauptung, wonach der Rückzug aus Cherson in erster Linie dem Schutz russischen Lebens gelte, passt folglich kaum ins Bild. Wahrscheinlicher ist, dass der Kreml Szenen wie nach dem Rückzug aus kleineren Städten wie Isjum im September vermeiden will. Zum Anfang ihrer Gegenoffensive hatten die Ukrainer damals täglich massiv Boden gutgemacht – den russischen Soldaten drohte die Einkesselung. Die anschließende "Umgruppierung" glich eher einer chaotischen Flucht. Über das Ausmaß der Niederlage in Cherson täuscht allerdings auch kein Schönreden hinweg. Laut der US-Denkfabrik "Atlantic Council" nannte der ehemalige Kreml-Berater Sergej Markow den Rückzug die "größte geopolitische Niederlage seit dem Zusammenbruch der UdSSR".
Mit der öffentlichkeitswirksam inszenierten Sitzung seines Generalstabs wollte Putin, seines Zeichens nach Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte, offenbar wieder einmal seine Militärführung zum Sündenbock machen. Fraglich ist, wie oft er auf diesen Trick noch zurückgreifen kann, bis er selbst Verantwortung zeigen muss. Stand jetzt rückt dieser Tag immer näher.
Quellen: "New York Times"; "Spiegel"; "Atlantic Council"; "Meduza"; mit dpa