Die militant-islamistischen Taliban setzen ihre dramatischen Gebietsgewinne weiter fort. In der Nacht zum Freitag eroberten sie mit Kandahar im Süden des Landes die zweitgrößte Stadt Afghanistans. Das bestätigten zwei Parlamentarier und ein Provinzrat der Deutschen Presse-Agentur. Damit fällt die 14. Stadt binnen einer Woche an die Islamisten. Die militant-islamistischen Taliban haben außerdem die wichtige Stadt Laschkargah im Süden Afghanistans eingenommen.
Kandahar hat mehr als 650.000 Einwohner. Die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz ist das wirtschaftliche Zentrum des Südens und war der Geburtsort der Taliban-Bewegung in den 1990er-Jahren. Kandahar diente zudem als Hauptstadt der Islamisten während ihrer Herrschaft zwischen 1996 und 2001.
Afghanische Regierung zieht sich zurück
Mehr als drei Wochen lang kam es innerhalb der Stadt zu schweren Zusammenstößen zwischen der Regierung und den Taliban, bevor die Sicherheitskräfte die Stadt evakuierten, sagte der Parlamentarier Gul Ahmad Kamin, der die Provinz im Parlament vertritt. Die Regierungstruppen hätten schließlich die wichtigsten Regierungsbehörden in Kandahar verlassen und im 205. Armeekorps der Provinz Zuflucht gesucht.
Laschkargah in der Provinz Helmand war seit Wochen schwer umkämpft. Viele Afghanen gingen aufgrund der heftigen Angriffe davon aus, dass sie die erste wichtige Stadt sein werde, die an die Islamisten fällt. Als die Regierung Ende Juli nur mehr zwei der zehn Polizeibezirke in der Stadt mit geschätzt 200.000 Einwohnern hielt, wurden aus Kabul noch einmal Spezialkräfte entsandt. Diese schafften es mit Unterstützung durch viele Luftangriffe der afghanischen und der US-Streitkräfte zunächst, die Lage zu stabilisieren, wobei aber auch ein Krankenhaus und eine Universität getroffen wurden.
Den Krieg im Kopf

Mit ihren Freundinnen ist Muschtari (gelber Schal) auf dem Weg zu einem Picknick. Sie wurde gerade aus dem Krankenhaus entlassen. Muschtari wird von Schmerzattacken heimgesucht, die keine klare körperliche Ursache haben, und hat immer wieder psychotische Phasen, in denen sie um sich schlägt und versucht, sich zu verletzen. Die Ärzte vermuten ein Trauma als Ursache. Doch was genau ihr passiert ist, will Muschtari nicht sagen.
Taliban erobern innerhalb einer Woche 14 Hauptstädte
Nach anhaltenden schweren Angriffen und dem Einsatz auch von Autobomben gegen das noch von der Regierung gehaltene Polizeihauptquartier allerdings wendete sich die Situation in der Nacht zu Freitag zugunsten der Taliban. Der Provinzrat Abdul Madschid Achundsada sagte am Freitagmorgen (Ortszeit), die Taliban hätten die gesamte Stadt eingenommen. Der Kommandeur des 205. Armeekorps, Sami Sadat, sei mit dem Gouverneur ausgeflogen worden. Restliche verbliebene Sicherheitskräfte hätten die Stadt auf dem Landweg verlassen.
Von den wichtigen Städten hält die Regierung nur noch die Hauptstadt Kabul, Masar-i-Scharif im Norden und Dschalalabad im Osten.
Mit dem Zusammenbruch der Städte Kandahar und Laschkargah haben die Taliban nun innerhalb einer Woche 14 Hauptstädte der 34 Provinzen des Landes überrannt. Am Donnerstag alleine konnten sie drei Städte einnehmen – darunter die drittgrößte Stadt Herat und die strategisch wichtige Stadt Gasni, die nur 150 Kilometer von Kabul entfernt liegt. Vertreter der afghanischen Regierung haben die sich überschlagenden Ereignisse noch nicht kommentiert.

USA entsenden 3000 Soldaten
Angesichts des Vormarsches werden die US-Streitkräfte sofort rund 3000 zusätzliche Soldaten an den Flughafen in Kabul verlegen. Damit soll eine geordnete Reduzierung des US-Botschaftspersonals unterstützt werden, hieß es von einem Sprecher des US-Verteidigungsministeriums. Zudem verlegen die USA demnach bis zu 4000 weitere Soldatinnen und Soldaten nach Kuwait und 1000 nach Katar – falls Verstärkung gebraucht würde.
Der Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan solle aber bis 31. August abgeschlossen werden, so der Sprecher am Donnerstag (Ortszeit). Auch Großbritannien will rund 600 zusätzliche Soldaten schicken, um bei der Rückführung von Briten aus Afghanistan zu helfen. Zuletzt hatte US-Präsident Joe Biden am Donnerstag im Weißen Haus erklärt, die Afghanen müssten nun "selbst kämpfen, um ihren Staat kämpfen".