Gegner werden ermordet, Journalisten verfolgt, Frauen unterdrückt – das ist die Realität im neuen, alten Afghanistan. Gegenüber der Weltöffentlichkeit zeichnen die Taliban jedoch ein ganz anderes Bild: Amnestie für Oppositionelle und Kritiker, Pressetermine, Respekt gegenüber Afghaninnen.
Denn der Feldzug der Taliban ist mit dem Einmarsch und der Machtübernahme in Kabul noch nicht vorbei. Gekämpft wird dabei nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Worten. Hauptverantwortlich für diese Illusion des Moderaten ist ein Mann namens Sabihullah Mudschahid, Sprecher der Taliban. Auf einer ersten Pressekonferenz vor internationalen Journalisten strahlte er Ruhe aus, schlug einen beschwichtigenden Ton an. Doch Mudschahid ist nicht das einzige Rad in der PR-Maschinerie der Islamisten.
Taliban-Sprecher Mudschahid: Ein Mysterium bekommt ein Gesicht
Mudschahid war lange Zeit vor allem eines: ein Mysterium. Als der 43-Jährige am 17. August vor die internationalen Kameras trat, sei es für viele Journalisten das erste Mal gewesen, dass sie sein Gesicht gesehen hätten, heißt es in einem Bericht der BBC. Jahrelang habe er im Verborgenen operiert, sei nur die Stimme am anderen Ende der Telefonleitung gewesen. Es habe sogar Spekulationen gegeben, wonach "die Stimme der Taliban" nicht nur eine, sondern viele Personen seien, dass sein Name und seine Identität ein Sammelsurium aus unterschiedlichen Funktionäre sei.
Die BBC-Journalistin Yalda Hakim sei "schockiert" gewesen, als sie Mudschahid schließlich leibhaftig vor sich sah. Überrascht sei sie jedoch auch von dessen versöhnlichem Ton gewesen – der in krassem Gegensatz zu seinen früheren Aussagen gestanden habe. Damals habe sie gedacht: "Diesem Kerl dürstet es nach dem Blut der Amerikaner, nach dem Blut der afghanischen Regierung."
Mudschahid habe übrigens auf dem Platz gesessen, der bis vor kurzem noch Dawa Khan Menapal, dem Direktor des afghanischen Medien- und Informationszentrums gehört habe, so die BBC weiter. Menapal sei Anfang des Monats von Taliban-Kämpfern erschossen worden. Sein "Nachfolger" Mudschahid habe sich damals zu dessen Ermordung offiziell bekannt.
Erstes Interview nach der Machtübernahme
Sein erstes Interview mit einem westlichen Medium nach der Machtübernahme gab Mudschahid der "New York Times". Der Ton: wieder beschwichtigend, fast einladend. Die Vergangenheit sei Vergangenheit, es gehe jetzt schließlich um die Zukunft des Landes, behauptete er laut "New York Times". Dass sich Frauen vor Unterdrückung fürchten müssten, habe er erneut entschieden zurückgewiesen. Noch am Vortag hatte Mudschahid alle Afghaninnen angehalten, ihre Häuser solange nicht zu verlassen, bis die Taliban-Kämpfer darin geschult seien, sie nicht zu misshandeln. Frauen bräuchten außerdem – anders als berichtet – keinen Vormund, wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegten – zumindest dann nicht, wenn die Reise weniger als drei Tage dauere, habe er gegenüber der "New York Times" gesagt.
Auch ehemalige lokale Hilfskräfte der US-Streitkräfte müssten keine Vergeltung fürchten. Der Westen solle aber von seinen Evakuierungsplänen Abstand nehmen – Ärzte, Professoren und andere Leute würden in ihrem eigenen Land gebraucht. "In Amerika werden sie vielleicht Tellerwäscher oder Köche. Das ist unmenschlich", so der Taliban-Sprecher.
Mudschahid, so die "New York Times", gilt als aussichtsreichster Kandidat für den Posten als Informations- und Kulturminister. Der 43-Jährige spreche die Landeshauptsprachen Paschtu und Dari fließend, sei Absolvent der islamischen Rechtswissenschaft an der bekannten Darul Uloom Haqqania Madrasa in Pakistan.
Doch Mudschahid ist nicht das einzige Sprachrohr. Denn kaum jemand verkauft das neue Regime so geschickt wie Abdul Qahar Balkhi. Das Mitglied der sogenannten Kulturkommission der Taliban fungierte auf der ersten Pressekonferenz als Dolmetscher von Mudschahid. Einen offiziellen Titel habe er noch nicht, da sei das Regime noch in der Findungsphase, wie der arabische Nachrichtensender Al Jazeera berichtete.
In einem Interview mit Al Jazeera sagt Balkhi eigentlich das gleiche wie Mudschahid – doch wirkte er angesichts seiner Gelassenheit weit weniger bedrohlich, viel ungezwungener. In perfektem, fast akzentfreiem Englisch schlug er einen verständnisvollen Ton an. So sei der Einmarsch in Kabul ursprünglich gar nicht geplant gewesen. Man habe nach eine "politische Lösung" finden , sogar eine "inklusive Regierung" bilden wollen. Weil jedoch die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Posten verlassen hätten, seien die Taliban gezwungen gewesen, zu übernehmen.
Auch auf die Berichte von gezielten Tötungen angesprochen, hat Balkhi eine passende Antwort: Es gehe der neuen Regierung nicht darum, Gesetze in der Bevölkerung durchzusetzen. Vielmehr wolle die Taliban-Führung sich zunächst um die Disziplin in den eigene Reihen kümmern, "um dann als Beispiel für den Rest der Gesellschaft zu dienen", behauptete er im Interview.
Taliban-Führungsstruktur bleibt ein Geheimnis
Zwar haben die zuvor aus dem Schatten operierenden Taliban-Sprecher seit der Machtübernahme ihr Gesicht gezeigt. Dennoch bleibt die Führungsstruktur der Islamisten – bis auf wenige Ausnahmen – ein Geheimnis. Der US-Nachrichtensender CNN, der sich an einem Organigramm der Taliban-Führungsebene versucht hat, kommt zu dem Schluss, dass sich die neue Regierung am Ende wahrscheinlich erneut aus Hardlinern zusammensetzen werde.
Nicht trotz, sondern gerade deswegen wird das neue Regime auch in Zukunft den Dialog mit dem Westen suchen. Denn die Taliban brauchen Zeit, Geld und Ruhe, um ihr System zu etablieren. Sprechern wie Mudschahid und Balkhi kommt dabei eine entscheidende Rolle zu, denn: "Das ist das Problem mit den Taliban – sie sind trügerisch, sie sind charmant, sie wissen, wie man die richtige Sprache benutzt, aber man ist sich nie ganz sicher, ob man ihnen glauben soll oder nicht", so die BBC-Journalistin Yalda Hakim.
Quellen: "BBC"; "Al Jazeera"; "New York Times"; "CNN"