Nur wenige am Hindukusch erinnern sich noch an die bisher letzte Parlamentswahl im Jahr 1969: Fast jeder zweite Afghane ist noch keine 15 Jahre alt. Am kommenden Sonntag (18. September) werden die Afghanen zum ersten Mal seit 36 Jahren wieder ihre Volksvertreter wählen - erneut ein bedeutender Schritt in Richtung Demokratie. Über deren Rolle herrscht allerdings nicht nur bei den Wählern Unklarheit. Auch viele der knapp 2800 Kandidaten dürften kaum wissen, was ihre Aufgaben sein werden - manche von ihnen können weder lesen noch schreiben. Und Afghanistan steht immer noch vor erdrückenden Problemen, die die Regierung in Kabul ohne langjährige internationale Hilfe nicht wird lösen können. Von dauerhaftem Frieden und echter Stabilität ist das Land am Hindukusch noch weit entfernt.
Auch knapp vier Jahre nach dem gewaltsamen Sturz der Taliban sind zahlreiche staatliche Institutionen wie Armee und Polizei noch im Aufbau, ein funktionierendes Justizsystem gibt es nicht. Die Entwaffnung illegaler Milizen der Kriegsherren ist bei weitem noch nicht abgeschlossen, in manchen Regionen hat die Zentralregierung kaum Autorität. Die radikalislamischen Rebellen haben in den vergangenen Monaten bewiesen, dass sie entgegen früherer Prophezeiungen noch nicht besiegt sind. Trotz erster verhaltener Erfolge im Kampf gegen den Schlafmohnanbau ist Afghanistan weiterhin der weltweit größte Produzent von Rohopium, dem Grundstoff für Heroin.
Rekruten für den Dschihad
In den Monaten vor der Parlamentswahl ist die Gewalt nicht nur wieder aufgeflammt. Die Rebellen haben offensichtlich auch dazugelernt. Das bekommen auch die US-Truppen zu spüren. Sie haben seit Beginn dieses Jahres nach eigenen Angaben bereits mehr Tote in Afghanistan zu beklagen als im gesamten Jahr 2004. Nachschub an Waffen und Geldern für die Rebellen käme aus dem Ausland, sagt der US-Militärsprecher in Kabul, Oberst James Yonts. Die Aufständischen seien gut bewaffnet. Auffällig sei, dass die Koalitionstruppen immer öfter junge Rebellen im Alter zwischen 17 und 20 Jahren gefangen nehmen - neue Rekruten, die dem Ruf zum Dschihad, dem Heiligen Krieg gegen die US-Truppen und die afghanische Regierung, folgen.
"Sie haben ihre Taktik angepasst", sagt Yonts. Statt sich im direkten Kampf mit den überlegenen Koalitionstruppen aufzureiben, greifen die Rebellen "weiche Ziele" wie muslimische Geistliche, die die Regierung unterstützen, oder Behördenvertreter auf lokaler Ebene an. Leichen von Polizisten würden verstümmelt und dienten als Warnung, sagt ein westlicher Sicherheitsexperte. "Der moralische Effekt ist enorm, die Einschüchterung funktioniert relativ gut." Die afghanische Regierung räumt ein, dass sich manche Polizisten in Konfliktregionen inzwischen weigern, Patrouille zu fahren. Die Zunahme an Kämpfen und Opfern hat nach Ansicht der US-Streitkräfte auch damit zu tun, dass die Koalitionstruppen die Rebellen immer aggressiver jagen - aber eben nicht nur. Die Rebellen seien zwar lange nicht so effektiv wie im Irak, meint Yonts. Trotzdem werde immer deutlicher: "Jemand hat sie trainiert."
Zahlen, Daten, Fakten
In Afghanistan leben rund 22 Millionen Menschen. Die Paschtunen stellen in dem südasiatischen Land die größte Bevölkerungsgruppe, gefolgt von Tadschiken, mongolischstämmigen Hasara und Usbeken. Fast alle Afghanen sind Muslime. Vier Fünftel gehören der sunnitischen, etwa ein Fünftel der schiitischen Glaubensrichtung an. Seit 2004 ist Afghanistan eine Islamische Republik. Afghanistan ist mit rund 650.000 Quadratkilometern größer als die Iberische Halbinsel. Es grenzt im Süden und Osten an Pakistan und China, im Westen an Iran. Der bis zu rund 7500 Meter hohe Hindukusch prägt das Land. Auf den Feldern wachsen Getreide, Baumwolle, Zuckerrüben und Obst. Nomaden ziehen mit Schaf- und Ziegenherden umher. Die Opiumpflanze Mohn wird in fast allen Provinzen angebaut. Derzeit sind rund 18.000 US-Soldaten im Lnd stationiert. Die von der Nato geführte internationale Schutztruppe ISAF verfügt über mehr als 8500 Soldaten - darunter fast 2000 deutsche.
Die Taliban geben sich unterdessen weit weniger aggressiv als noch vor der Präsidentenwahl, die sie damals durch Terror verhindern wollten. Rebellensprecher Mufti Latifullah Hakimi sagt nun, es sei gar nicht nötig, den gesamten Wahlprozess zu sabotieren, man werde das Ergebnis ohnehin nicht akzeptieren. Einfache Wähler würden nicht angegriffen, Kandidaten dagegen schon. Sechs Kandidaten sind bislang ermordet worden, auch wenn nicht immer klar ist, ob tatsächlich die Taliban hinter den Anschlägen steckten. Seine Vorgänger, die den Rebellen eine baldige endgültige Niederlage vorhersagten, hätten wohl nicht ganz richtig gelegen, räumt US-Militärsprecher Yonts ein. "Ich glaube nicht, dass ihr Rückgrat gebrochen wurde." In Afghanistan werde der Kampf gegen die Rebellen noch Jahre weitergehen. "Sie werden dieses Land nicht aufgeben." Das sehen auch die Rebellen so. Taliban-Sprecher Hakimi betont: "Wir werden unseren Kampf gegen die Amerikaner bis zum Tag des Jüngsten Gerichts fortführen."
"Geld ist in falsche Richtungen geflossen"
"Das Hauptproblem ist der wirtschaftliche Wiederaufbau Afghanistans, der weit hinter dem eigentlichen Plan zurückgeblieben ist", sagt der afghanische Wirtschaftsminister Amin Farhang. "Geld ist in falsche Richtungen geflossen." Viele Afghanen sind frustriert, für sie hat die neue Ordnung wirtschaftlich kaum eine Dividende abgeworfen. Immer noch ist Afghanistan eines der ärmsten Länder der Welt - und eines der korruptesten. Von den rund 1,5 Milliarden US-Dollar, die der Staat jährlich etwa über Steuern und Zölle einnehme, kämen nur gut 300 Millionen in Kabul an, sagt Farhang. Der Rest verschwinde in dunklen Kanälen.
Das Ergebnis der Parlamentswahl wird erst Ende Oktober erwartet, und es wird wenig aussagekräftig sein. Parteien sind nicht zur Wahl zugelassen, für die 249 Sitze - 68 davon sind für Frauen reserviert - werden mehr oder weniger unabhängige Kandidaten gewählt. Ob die Regierung des im Oktober vergangenen Jahres vom Volk direkt bestimmten Präsidenten Hamid Karsai eine Mehrheit im Parlament haben wird, ist völlig ungewiss. Viele Kriegsherren und muslimische "Gotteskrieger" (Mudschaheddin) werden in die Volksvertretung einziehen. Einige von ihnen haben untereinander noch alte Rechnungen offen.
"Es wird zu schweren Handgreiflichkeiten kommen", sagt Farhang. "Ich glaube nicht, dass das Parlament in dieser Zusammensetzung arbeitsfähig sein wird." Je nach Thema werde es Blockaden der Regierungspolitik oder immer wieder zusammenbrechende "Ad-hoc-Koalitionen" geben. Dabei liegen vor den neuen und politisch meist völlig unerfahrenen Volksvertretern gigantische Aufgaben: Sie müssen nicht nur etwa neue Gesetze und den Staatshaushalt verabschieden, sondern auch alle bislang von der Karsai-Regierung verabschiedeten Gesetze überprüfen. "Für die Regierung und das Parlament wird es schwierig werden", sagt Farhang.
"Es handelt sich ja nicht um Raketenwissenschaft"
Die Vereinten Nationen sind nicht so pessimistisch. Der stellvertretende UN-Sondergesandte Filippo Grandi, der eine nicht perfekte, aber akzeptable Wahl erwartet, glaubt, dass die Volksvertreter ihr Geschäft mit der Zeit schon lernen werden. "Es handelt sich ja nicht um Raketenwissenschaft." Die Schwierigkeiten lägen eher in der Logistik: So sei ungewiss, wo in der Hauptstadt Kabul die Parlamentarier in den Sitzungszeiten unterkommen sollten. Auch sei die Sicherung des Parlaments noch nicht geklärt - obwohl das "eine ideale Zielscheibe für Terroristen" sein werde. Er hoffe nicht, dass die Internationale Gemeinschaft die Wahl als einen Punkt sehe, ab dem man Afghanistan langsam wieder sich selber überlassen könne, sagt Grandi. "Hier wurden früher sehr harte Lektionen gelernt, als die Internationale Gemeinschaft 1992 beschloss, das Land zu verlassen." Afghanistan versank damals im Bürgerkrieg, unter den Taliban beherbergte das isolierte Land Osama bin Laden und wurde zum Ausgangspunkt für den weltweiten Terror al Kaidas. Erst mit den Anschlägen vom 11. September 2001 rückte das Land ins Zentrum des Weltinteresses.
Diplomaten vertrauen zumindest halbwegs darauf, dass sich die afghanischen Volksvertreter ihrer Verantwortung trotz aller Differenzen bewusst sein werden - und dass sie die Würde des Hohen Hauses achten. "Sie werden einander vielleicht außerhalb des Parlaments erschießen", sagt ein westlicher Diplomat, "aber niemals im Parlament." Doch nicht nur die Legislaturperiode wird schwierig werden: Schon die Wahl selber ist es, und die Zeit der Stimmenauszählung nach dem Wahlsonntag wird es allemal.
Die Bewohner Kabuls haben den Vorteil, dass sie - anders als in vielen entlegenen Regionen - schon lange von der Abstimmung wissen. Doch die Hauptstädter werden die Qual der Wahl zwischen knapp 400 Kandidaten haben, über die sich kaum jemand umfassend informieren kann. Der siebenseitige Stimmzettel in Kabul sieht aus wie eine Zeitung, zudem gleichzeitig die 34 Provinzräte gewählt werden. Niemand weiß allerdings so recht, was diese Räte tun sollen - darüber soll erst das Parlament entscheiden.
Kopfschütteln gibt es darüber, dass dem afghanischem Wahlrecht zufolge nach der Stimmenauszählung der Zweitplatzierte ins Parlament zieht, sollte der Gewinner auf sein Mandat verzichten oder gar ums Leben kommen. Westliche Diplomaten sprechen von einer "Attentatsklausel": In dem waffenstarrenden Land läge es nicht fern, den Gewinner zu ermorden - oder ihn davon zu überzeugen, dass es für das Wohl seiner Familie abträglich wäre, nach Kabul zu ziehen.
"Man muss irgendwann damit anfangen"
Bei allen Schwierigkeiten: Selbst afghanische Regierungsvertreter, die ihre Politik bislang ohne parlamentarische Kontrolle umsetzen konnten, räumen die Notwendigkeit eines Parlaments ein. "Man muss irgendwann damit anfangen", sagt Wirtschaftsminister Farhang. "Es wird vielleicht drei oder vier Legislaturperioden dauern, aber dann wird das Parlament Fuß fassen."
Die afghanische Regierung hat sich unterdessen für eine neue Konferenz der Weltgemeinschaft und Afghanistans zu den drängenden Problemen des Landes Anfang kommenden Jahres ausgesprochen - das Treffen könnte einen Nach-Bonn-Prozess einläuten. Farhang wünscht sich Kabul als Ort der Konferenz, auch er hält einen neuen internationalen Dialog für dringend notwendig. Der Minister betont: "Ich glaube nicht, dass Afghanistan bald zur Ruhe kommt."