Kaum ist der erste Prozess beendet, folgt auch schon der zweite: Am Freitag hat ein neues Gerichtsverfahren gegen Alexej Nawalny begonnen. Diesmal wird dem führenden Kopf der russischen Opposition die Verleumdung eines Veteranen des Zweiten Weltkriegs vorgeworfen.
Der Gegenstand der Anklage
Im Juni des vergangenen Jahres hatte der Kreml-Propagandasender RT ein Werbevideo veröffentlicht, das die Bevölkerung von der damals anstehenden Verfassungsänderung überzeugen sollte. Ziel der Änderungen war vor allem die sogenannte Annullierung der bisheriges Amtszeiten von Wladimir Putin. Somit kann der Kreml-Chef de jure bei den zukünftigen Präsidentenwahlen kandidieren.
In dem Video waren mehrere Personen zu sehen, die dazu aufriefen für die Verfassungsänderung zu stimmen, unter ihnen der Designer Artemy Lebedew, die Eiskunstläuferin Adelina Sotnikowa, der Schauspieler Iwan Okhlobystin und auch der 95-jährige Veteran Ignat Artemenko.
Nawalny kommentierte das Video in seinen sozialen Netzwerken: "Oh, hier sind sie, meine Täubchen. Ich muss sagen, dass das Team der korrupten Lakaien bislang eher schwach aussieht. Schauen Sie sich sie an: Das ist eine Schande für unser Land. Das sind Leute ohne Gewissen. Verräter."
Das russische Ermittlungskomitee vertritt die Ansicht, dass Nawalny auf diese Weise "wissentlich falsche Informationen verbreitet, die die Ehre und Würde des Veteranen diskreditieren", und leitete ein Strafverfahren gegen ihn ein.
Alexej Nawalny: "Ich verstehe sehr gut, warum es zu diesem Verfahren kam"
Vor Gericht weist Nawalny die Vorwürfe von sich. Der Oppositionspolitiker habe in seinem Kommentar lediglich seine Meinung zum Ausdruck gebracht und nicht den Veteranen verleumdet, argumentieren seiner Anwälte. Zum selben Ergebnis kam auch eine von der Verteidigung in Auftrag gegebene Expertise. Nach Ansicht des Experten, eines Professors für Lexikographie, enthalten die Aussagen von Nawalny keine Tatsachenbehauptungen, die widerlegbar wären, sondern nur negativ bewertende Charakterisierungen. Eine Verleumdung sei aber die Verbreitung von wissentlich falschen Informationen über eine Person, um sie zu diskreditieren, erklärte der Professor.

Die Staatsanwaltschaft beharrt dennoch darauf, Nawalny habe gewusst, dass seine Aussagen faktisch falsch wären. Der Oppositionspolitiker habe mit seinem Kommentar dem Veteranen moralischen Schaden zugefügt.
Nawalny wirft jedoch der russischen Justiz vor, den alten Mann "wie eine Puppe an einer Strippe" zu benutzen. Tatsächlich ist während der Verhandlung, der Artemenko per Videoschalte beiwohnt, zu beobachten, dass er kaum selbst sprechen kann. Stattdessen sitzen ihm permanent nicht identifizierte Personen zur Seite und reden auf den 95-Jährigen ein. Was sie flüstern, kann im Gerichtssaal niemand verstehen. Zwischenzeitlich geht es dem Veteranen, der gerade erst eine Operation hinter sich hat, so schlecht, dass ein Krankenwagen gerufen und die Verhandlung unterbrochen werden muss.
Er kenne Ignat Artemenko nicht, sagte Nwalny, was der 95-Jährige bestätigte. "Ich verstehe sehr gut, warum es zu diesem Verfahren gekommen ist", sagte Nawalny. Er stamme aus der Feder der RT-Propagandisten unter der Ägide ihrer Chefin Margarita Simonjan. "Ich sollte gegen etwas größeres, heiligeres antreten. Sie dachten wohl: Lassen Sie uns einen Veteranen finden, ihm Medaillen umhängen und ihn skrupellos und dreist benutzen. Sodass Nawalny gegen einen Veteran und seine Medaillen steht", legte der Politiker seine Version dar.
Er sehe in dem Gerichtssaal weder den Designer Artemy Lebedew noch den Schauspieler Iwan Okhlobystin, die in dem Video, dass er kommentiert hatte, ebenfalls Hauptrollen gespielt haben, führte Nawalny weiter aus. Es wäre für die Behörden schlicht nicht vorteilhaft zu sagen, dass er alle drei aufgeführten Personen verleumdet habe. "Weil Artemenko Medaillen hat – Lebedew hingegen grüne Haare", bemerkte Nawalny mit dem ihm eigenen Sarkasmus.
Am Ende schreien alle nur noch
In den letzten Jahren hat Putin und seine Regierung den Zweiten Weltkrieg und den Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland zur Propaganda-Zwecken ausgeschlachtet. Es vergeht so gut wie kein Tag, an dem der Kreml nicht an von der Glorie dieses Sieges sprechen würde. Die Veteranen, die an hohen Feiertagen mit allen Ehren auf dem Roten Platz empfangen werden, fristen aber sonst ein Dasein in Armut. So ist es nicht verwunderlich, dass die Staatsanwalt jede Frage Nawalny nach der Rente und den Lebensumständen von Artemenko blockiert. Das Anschneiden dieses Themas soll offenbar vermieden werden.
Zum Schluss des Tages kommt es zum Eklat. Als der Enkel des Veteranen, Igor Kolesnikow, als Zeuge vernommen wird, platzt Nawalny der Kragen. "Sie verkaufen Ihren Großvater!", wirft der Politiker ihm vor. "Das Problem Ihres Großvaters ist, dass er seine Enkel zu einem Stricher erzogen hat", ruft Nawalny. "Beweisen Sie es! Sie behaupten es aus einer Zelle heraus, beweisen Sie es", schreit Kolesnikow zur Antwort.
Alle schreien. Der Staatsanwalt bittet Nawalny aus dem Saal zu entfernen. "Sie können nicht einmal einen Fall kompetent inszenieren? Das beleidigt mich", ruft Nawalny zum Schluss. Die Verhandlung wird beendet und auf den 12. Februar vertagt.
Sollte Nawalny schuldig werden, droht ihm ein Bußgeld von bis zu einer Million Rubel, umgerechnet rund 11.000 Euro.