Nun, da die Briten noch rätseln über ihren strubbeligen Premier und darüber, wie er es wieder mal geschafft hat, sich vorerst aus dem Schwitzkasten zu befreien; und nun, da die Kontinentaleuropäer abermals staunen über das bunte Treiben im Unterhaus mit Rede und Gegenrede und einem Klangteppich aus Murren und Grunzen, nun also begibt sich Boris Johnson auf Reisen – und spielt in der Ukraine den Staatsmann, den er daheim vermissen lässt.
Keine 24 Stunden nach der Veröffentlichung des radikal zusammengestutzten und dennoch ziemlich aussagekräftigen Untersuchungsberichtes der Spitzenbeamtin Sue Gray über die vielen Gelage in Downing Street während des Lockdowns saß der umstrittene Regierungschef im Flugzeug – diesmal allerdings nicht begleitet von einem großen Journalistentross, wie normalerweise üblich. Diese Turbulenzen wollte er dann doch vermeiden.
Johnson hat den ersten Sturm überstanden
Johnson hat den ersten Sturm überstanden, die Metropolitan Police ermittelt weiter in zwölf Fällen, sie sichtet mehr als 300 Fotos und mehr als 500 Seiten Dokumente, und das Verdikt dürfte – wenn es irgendwann öffentlich wird – vermutlich vernichtender ausfallen als Grays Schmalspurversion vom Montag. Wann immer das sein mag.
Und wie immer dann auch die Konsequenzen für Johnson aussehen mögen. Eines ist sicher: Boris Johnson ist längst ein Meister der Selbstverteidigung. Er hat derart oft gelogen oder zumindest nicht die Wahrheit gesagt – und ist stets davon gekommen. Er hat das alte Bonmot vom “Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht…“ durch den penetranten und permanenten Beweis des Gegenteils schlicht außer Kraft gesetzt. Das wissen alle: die eigene Partei, die Opposition und die Bürger natürlich auch. Fast zwei Drittel aller Briten würden ihn nach der letzten Meinungsumfrage vom Montag abend gerne los werden. Und alle wissen zugleich, dass das eben nicht passieren wird.
Johnson profitiert dabei von zwei Dingen: Dem, erstens, vormals erbarmungswürdigen Zustand von Labour unter dessen damaligen Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Die ermöglichte ihm jenen satten Vorsprung bei den Parlamentswahlen 2019, von dem er heute zehrt. Und dem, zweitens, aktuell erbarmungswürdigen Zustand seiner eigenen Partei, der Tories. Das Getöse um ein unmittelbar bevorstehendes Misstrauensvotum verpuffte alsbald. Ein paar Aufrechte wie seine Amtsvorgängerin Theresa May oder das frühere Kabinettsmitglied Andrew Mitchell zürnten im Unterhaus, und Johnson wirkte vor allem bei Mays Attacke (“Entweder hat mein ehrenwerter Freund die Regeln nicht gelesen oder er und die Leute um ihn herum haben nicht kapiert, was sie bedeuteten oder sie dachten, die Regeln gälten nicht für Number 10. Was war es nun?“) für einen Moment tatsächlich angezählt, fing sich aber und geriet nicht mal richtig ins Taumeln. Der Mann hat Übung darin. Und er hat auch Übung darin, den Zorn in den eigenen Reihen zu zähmen. Am Montag stellte er sich noch der Fraktion, versprach Besserung, und ein Maulheld nach dem anderen ließ sich davon einlullen. Auch das kennt man inzwischen. Die angekündigte Rebellion gegen den Premier geriet zu einem Rohrkrepierer.
Gerede über Nachfolger sind reine Schaufenster-Debatten
Die Konservativen haben sich von Boris Johnson ähnlich abhängig gemacht wie die republikanische Geistesverwandtschaft in den Staaten von Donald Trump. Johnson sortierte Kritiker und Feingeister sukzessive aus. Es blieben Hardliner und politische Bleichgesichter. Außenministerin Liz Truss und Finanzminister Rishi Sunak werden zwar immer wieder als mögliche Nachfolger gehandelt. Aber das sind Schaufenster-Debatten. Truss gilt intern als, sagen wir mal vorsichtig, intellektuell etwas limitiert. Und der klügere Sunak als nicht mehrheitsfähig.
Das weiß auch Johnson. Und also geht die Scharade weiter. Boris verteilt Leckerlis, verheißt neue Gesetze, die den Brexit vereinfachen sollen, geißelt Putin, lobt die flotte Impfkampagne und erträgt selbst die Angriffe seines ehemaligen Beraters Dominic Cummings erstaunlich gelassen. Es hat, das nur am Rande, schon etwas Amüsantes zu beobachten, wie jener Mann, der mit seinen Lügen und Tricks Johnson erst zum Brexit und dann ins Amt verhalf, nun alles tut, um seinen früheren Boss wieder aus dem Amt zu treiben.

Der einst so mächtige Cummings musste im November 2020 gehen. Sein Abschied, so heißt es, wurde in der Downing Street mit einer Party gefeiert. Eine von vielen.
All das wird vermutlich en detail im nächsten Report der Metropolitan Police stehen. Aber bis dahin vergeht noch eine Weile. Und bis dahin ist wieder mal viel vergessen.
Es ist also alles: wie immer.