Ukraine-Krieg London sieht in Cherson-Rückzug großen Imageschaden für Russland  – Selenskyj würdigt "historischen Tag"

Ein zerstörter russischer Panzer steht am Rande von Iwaniwka in der Provinz Cherson
Symbol der Rückeroberung: Ein zerstörter russischer Panzer steht am Rande von Iwaniwka in der Provinz Cherson
© Celestino Arce Lavin / DPA
Das britische Verteidigungsministerium wertet den Abzug Russlands aus Cherson als "weiteres strategisches Versagen" der Kreml-Truppen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj lobt derweil den Mut der Menschen vor Ort.

Die Rückeroberung der Großstadt Cherson durch ukrainische Truppen bedeutet nach britischer Einschätzung einen erheblichen Imageschaden für Russland. "Der Rückzug ist eine öffentliche Anerkennung der Schwierigkeiten, mit denen die russischen Streitkräfte am Westufer des Flusses Dnipro konfrontiert sind", erklärte das Verteidigungsministerium in London am Samstag unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse. Die Ukraine habe große Teile des Gebietes Cherson am Westufer des Dnipro eingenommen und kontrolliere mittlerweile weitestgehend die gleichnamige Stadt.

Ressortchef Ben Wallace sprach von "einem weiteren strategischen Versagen". Die russische Einnahme von Cherson zu Kriegsbeginn sei das einzige Mal gewesen, dass der Kreml ein wichtiges Ziel erreicht habe. Wenn die Stadt nun wieder aufgegeben werde, würden sich die Menschen in Russland mehr und mehr die Frage stellen, wozu der Krieg gut sei.

Das Ministerium bezweifelte, dass Russland Truppen und Material in kürzester Zeit evakuiert hat. Es sei vielmehr wahrscheinlich, dass der Rückzug bereits am 22. Oktober eingeleitet worden sei, als die russische Besatzungsverwaltung die Zivilbevölkerung aufforderte, die Stadt zu verlassen. Vermutlich habe Russland seitdem militärische Ausrüstung sowie Streitkräfte in Zivilkleidung gemeinsam mit den offiziell 80.000 evakuierten Zivilisten aus der Stadt gebracht.

London teilte weiter mit, dass Russland noch immer versuche, Einheiten aus anderen Teilen des Gebietes Cherson über den Dnipro in Verteidigungsstellungen zu evakuieren. "Russische Streitkräfte haben im Rahmen dieses Prozesses höchstwahrscheinlich Straßen- und Bahnbrücken über den Dnipro zerstört", hieß es.

Das britische Verteidigungsministerium veröffentlicht seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Ende Februar unter Berufung auf Geheimdienstinformationen täglich Informationen zum Kriegsverlauf. Damit will die britische Regierung sowohl der russischen Darstellung entgegentreten als auch Verbündete bei der Stange halten. Moskau wirft London eine Desinformationskampagne vor.

Selenskyj nennt Einzug in Cherson "historisch"

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach derweil angesichts der Rückeroberung von Cherson von einem "historischen Tag". Noch sei die Stadt Cherson nicht komplett von der "Präsenz des Feindes" befreit, sagte Selenskyj am Freitagabend in seiner täglichen Videobotschaft. Ukrainische Spezialeinheiten seien aber bereits vor Ort. Ihre erste Aufgabe werde es sein, die zahlreichen Minen unschädlich zu machen, die von der russischen Armee hinterlassen worden seien. Die Bewohner von Cherson entfernten zudem selbstständig russische Symbole von Straßen und Gebäuden.

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Selenskyj veröffentlichte auch ein Video, das Autokorsos und Jubelchöre für die anrückenden ukrainischen Soldaten zeigen soll und lobte den Mut der Einwohner Chersons, die seit Mitte März unter russischer Besatzung waren. "Sie haben die Ukraine nie aufgegeben", sagte der Präsident.

"Cherson ist die Ukraine", betonte auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko in einem Onlinedienst. Und der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba nannte den russischen Rückzug einen "weiteren wichtigen Sieg" für die Ukraine. Am Samstag ergänzte er jedoch: "Wir gewinnen Schlachten auf dem Boden. Aber der Krieg geht weiter."

Washington lobt "Hartnäckigkeit und Geschick der Ukrainer"

Die USA erklärten am Samstag: "Es sieht so aus, als hätten die Ukrainer gerade einen außergewöhnlichen Sieg errungen, bei dem die einzige Regionalhauptstadt, die Russland in diesem Krieg erobert hat, nun wieder unter ukrainischer Flagge steht." Der russische Rückzug habe "umfassendere strategische Auswirkungen", sagte der Nationale Sicherheitsberater, Jake Sullivan, in Washington. Dazu gehöre, dass sich die längerfristige Bedrohung anderer südukrainischer Städte wie Odessa durch Russland verringere. Dieser große Moment sei der "unglaublichen Hartnäckigkeit und dem Geschick der Ukrainer zu verdanken". Sullivan verwies auch auf die Unterstützung der USA und anderer Staaten.

Drei Männer mit der Flagge der Ukraine in der Hand bejubeln in Cherson die Befreiung von den russischen Besatzern
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© Reuters
Jubel und Freudentänze: Bewohner von Cherson feiern Abzug russischer Truppen

Neun Monate nach Beginn des Krieges hatte die russische Armee am Freitagmorgen die strategisch wichtige Stadt Cherson geräumt. Um 5 Uhr (4 Uhr MEZ) sei "der Transfer russischer Soldaten ans linke Ufer des Flusses Dnipro beendet" gewesen, teilte das russische Verteidigungsministerium in Onlinediensten mit. Für Moskau ist die Region strategisch von großer Bedeutung, um die Offensive in Richtung Mykolajiw und zum Schwarzmeerhafen Odessa fortsetzen zu können. Darüber hinaus beherbergt Cherson den Kachowka-Staudamm, der die von Russland annektierte Halbinsel Krim mit Wasser versorgt.

Russlands Präsident Wladimir Putin hatte Ende September die Annexion von Cherson und drei weiteren ukrainischen Regionen verkündet. Am Freitag erklärte der Kreml, Cherson bleibe trotz des Truppenabzugs Teil des russischen Staatsgebietes. Die Region sei "Subjekt der Russischen Föderation", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow unter Verwendung der russischen Bezeichnung für Verwaltungseinheiten.

DPA · AFP
mad