Israel ausgebuht Wie die Halle in Malmö den wohl skandalösesten ESC aller Zeiten erlebte

Bilanz des ESC 2024: So politisch war der Wettbewerb noch nie (Video)
Außerhalb der Halle demonstrierten tausende Menschen gegen die Teilnahme Israels, drinnen wurde die Sängerin Eden Golan auf der Bühne ausgebuht. Freuen durfte sich am Ende Nemo aus der Schweiz. 
© Martin Meissner/ / Picture Alliance
Sehen Sie im Video: Eurovision Song Contest in Malmö – so politisch aufgeladen war der ESC noch nie.
Vor Ort beim in diesem Jahr stark politisch aufgeladenen ESC, wo Fans aus Israel und anderen Ländern über die Zukunft des Wettbewerbs verhandelten. Mit Buhrufen und Jubelgeschrei.

Die Malmö-Arena war am Abend des Eurovision-Finales der wohl einzige Ort in der ganzen Stadt ohne Palästina-Flagge. Zumindest von innen. Auf den Straßen drum herum zeichnete sich in Schwedens drittgrößter Stadt ein ganz anderes Bild: Schwarz-Weiß-Rot-Grün, soweit das Auge reichte, Parolen gegen Israel, Polizisten führten Aktivistin Greta Thunberg ab. Und dann schrien die Demonstranten den in Glitter gekleideten ESC-Fans hinterher: "Schämt euch". Unklar, wofür genau – die Outfits am Rande des Geschmackswahnsinns oder dass man den ESC nicht boykottierte, trotz Israels Teilnahme.

Die Fans drängten sich also durch die mit Palästinensertuch umhüllte Masse, Strasssteine zwischen Stressmachern, und erreichten ihre kleine Insel der Glückseligen, die Arena. Griechische Flaggen neben deutschen, armenische neben israelischen. "Ich liebe euren Song", riefen die einen den anderen hinterher, "ich vote für euch." 

Doch das angestrengte "So-tun-als-ob-nichts-wäre" begann schneller zu bröckeln, als gedacht. Schon zu Beginn die etwas zu rasche Erwähnung, dass der ESC aus Friedensgründen geschaffen worden sei, für das Miteinander nicht Gegeneinander. Eine Kindergärtnerin hätte das Mantra nicht schöner ausdrücken können, wohl auch nicht häufiger.

Und dann tanzten sie nacheinander über die Bühne: Die perfekt gestylten Sänger:innen. Die Betonung lag hierbei auf dem ":". Schließlich war es, Spoileralarm, die nicht-binäre, also weder klar männlich noch weibliche zugeordnete, entsandte Person aus der Schweiz, die am Ende des Abends den Sieg errang: Nemo mit dem Song "The Code". Von Anfang an unter den Favoriten, von Fans gefeiert, aber halt, stopp, das war nicht der Grund, warum die Menge beim Einlaufen der Gesandten die Fassung verlor.

Vielmehr war es die in weiß gewandete israelische Sängerin Eden Golan, bei der die Menge plötzlich laut wurde. Pfiffe gellten durch die Halle – gefolgt von Applaus und Jubelrufen, ein verzweifelter Versuch, die Störer zu übertönen. Der erste und erfolgreichste Anlauf an dem Abend. 

Das zeigte von Anfang an: Auch unter den ESC-Fans gibt es jene, denen in Zeiten des Gaza-Kriegs der unpolitische Charakter des Wettbewerbs egal ist. Und jene, die sagen: Egal was kommt, wir wollen – "ein bisschen Frieden", um es mit der ersten deutschen ESC-Gewinnerin Nicole zu sagen. Diese beide Gruppen also kämpften am Finalabend gegeneinander an. Sie fochten um den Grundgedanken des ESC, gar seine Daseinsberechtigung als Friedensfest, und das alles durch Buh-Rufe gegen Jubelgeschrei. Am Ende, so viel sei gesagt, waren es jedoch nicht die Fans in der Arena, die das Rennen entschieden. Doch das ahnte zu dem Zeitpunkt noch niemand.

Israel-Pfiffe bei jeder Erwähnung in der Halle

Eden Golan, 20, betont diplomatisch, wurde wie in den Proben und dem Halbfinale zuvor schon beim Einlaufen ausgepfiffen. Die blau-weiße Fahne mit dem Davidstern hielt sie dennoch stolz in die Höhe, als höre sie das Publikum gar nicht.

Doch irgendwann konnte selbst sie das Schreien und Pfeifen nicht mehr ignorieren. Bei jeder Erwähnung Israels legte ein Teil des Publikums los.

Als Golan ihr Lied aufführte wagte man es fast nicht, den Blick auf ihr ruhen zu lassen – so nah lag der Gedanke, dass ein Zuschauer die Bühne stürmen würde.

Schon im Vorhinein hatte Golan Morddrohungen zugeschickt bekommen und Tausende demonstrierten vor ihrem Hotelzimmer.

Die letzten Takte sang Golan auf der Landessprache Hebräisch. Hatten sich die Gemüter zwischendurch wieder beruhigt, pfiff die Menge nun umso lauter los.

Golan ging nach der letzten Note ruhig von der Bühne zu ihrem Team. Dann brach sie in Tränen aus. 
Ein neuer Tiefpunkt in Malmö: Selbst die eingefleischten ESC-Fans, die mehrere hundert Euro teure Finaltickets gekauft hatten, buhten sie nun aus. Auch die Fans, die anfangs noch versucht hatten, den Hass zu übertönen, wurden immer leiser. Gäbe es einen Eurovision Song über Golans Tage in der Stadt, dann hieße er "Schweden gegen Eden". Den Abend hindurch ging es so weiter. Mehr Pfiffe, teilweise so laut, dass man bei der Punktevergabe der israelischen Jury kein Wort mehr verstand.

Dann wieder ESC-typischer Freuden- bis Ekstase-Taumel. Feuershow nach Feuershow, sodass selbst das Publikum in den oberen Rängen ins Schwitzen geriet. Auch der deutsche Kandidat Isaak stand neben einer Art brennendem Ölfass, während Backgroundsänger "Run, na na eh" tönten. Er selbst bezeichnete sich im Songtext als "nothing but the average", durchschnittlich also, was für Deutschland beim ESC einer maximalen Verbesserung gleichkommt. Und als hätte sich seine Prophezeiung erfüllt, landete Isaak damit letztendlich im Mittelfeld, Platz zwölf. Er holte mit 99 Jury-Punkten mehr als alle deutschen Kandidaten der vergangenen vier Jahre zusammen, nach den Tele-Votes waren es 117. Eine noch höhere Platzierung, ja geschweige denn einen Sieg, hätte Deutschland – verwöhnt mit letzten Plätzen – wohl nicht ertragen.

ESC 2024: Hick-Hack der Kandidaten untereinander

Die Showeffekte, die Teufelsaustreibung (oder Teufelseintreibung?) der irischen Kandidatin, die Betonung der reichen ESC-Geschichte – all das wirkte noch mehr auf die Spitze getrieben als in den Vorjahren. Zuschauer hingen immer wieder an den Smartphones, überfordert angesichts der Niagara-Fälle aus Emotionen. Auf Instagram gab es schließlich das wirklich Spannende zu entdecken – das Hick-Hack der Kandidaten untereinander.

Wieder im Mittelpunkt: Eden Golan. Die griechische Kandidatin gähnte während einer Pressekonferenz demonstrativ, als Golan redete und tat, als schliefe sie ein. Der niederländische Kandidat stichelte schon im Vorhinein gegen Israel – doch tanzte gar nicht erst zum Finale an. Und wurde damit zum großen Thema in den Toilettenschlangen der Malmö-Arena. Hatte Israel etwas mit der Disqualifizierung des Publikumslieblings zu tun? Nein, stellte sich recht schnell heraus. Dass sich das Gerücht dennoch lange hielt, erzählt viel über den Umgang mit Israels Sängerin als Sündenbock. In den sozialen Medien wird Joost Klein teils noch immer als eine Art Eurovision-Märtyrer gefeiert, der wegen seiner Palästina-freundlichen Aussagen rausgeschmissen wurde. Seine Pop-Techno-Hyme "Europapa" wurde zum Protestsong erklärt.

Der tatsächliche Grund, den auch sein Team bestätigte: Es kam zu einer Auseinandersetzung mit einer Mitarbeiterin, die ihn filmte. Sie habe sich im Streit von ihm bedroht gefühlt, erstattete Anzeige. Er wurde disqualifiziert. 

Niederländische Fans, die sich schon auf einen Song Contest in ihrem Land gefreut hatten, zeigten sich in der Malmö-Arena enttäuscht. So auch Harm Slor, aufgeklebte Glitzerwimpern, orange-farbiges Paletten-Top. Mitgefeiert habe er dennoch bei jedem Lied – wirklich jedem, betont er. "Mich regen Leute auf, die hier die Stimmung verderben und die junge israelische Künstlerin ausbuhen. Die machen die Idee der Eurovision kaputt, die Liebe, den familiären Zusammenhalt." Seine Art, den Frust über den disqualifizierten Joost Klein rauszulassen: "Ich habe einfach nicht für einen Gewinnersong abgestimmt. Mir war nicht mehr danach." 

Der Niederländer Harm Slor (rechts) ist zum zweiten Mal beim ESC dabei und hat seine Freunde mitgebracht. Er ist enttäuscht, dass der niederländische Kandidat ausgeschlossen wurde
Der Niederländer Harm Slor (rechts) ist zum zweiten Mal beim ESC dabei und hat seine Freunde mitgebracht. Er ist enttäuscht, dass der niederländische Kandidat ausgeschlossen wurde
© Katharina Kunert

Genug andere stimmten jedoch ab und lösten damit das zweite und dritte Politikum des Abends aus. Zunächst die Jurys der Länder. Klecker-Punkte für Israel, kein Land, das sich parteiisch in die eine oder andere Richtung zeigen wollte. Buh-Rufe, als Deutschland Israel acht Punkte gab.

Viele Zuschauerstimmen für Israel

Dann die Zuschauer-Stimmen. Während andere Länder zunächst im ein- oder zweistelligen Bereich punkteten, bekam Israel: 323. Eine enorme Zahl wäre das auch in Zeiten gewesen, die nicht von Krieg überschattet sind. Doch dass gerade jetzt weltweit Menschen für Israel anriefen, das Land damit sogar für ein paar Minuten auf Platz eins katapultieren, damit hätte wohl kaum einer gerechnet. Eden Golan und ihr Team lagen sich in den Armen, israelische Medien schrieben, das sei der ESC-Sieg der Herzen gewesen. Eine Bestätigung, dass man doch nicht allein dastehe. Freude für Eden Golan, Leid für die Pfeifer, die am Ende des Abends ganz verspannte Lippen gehabt haben müssen. 

Direkt neben einigen von ihnen saßen die beiden Israelis Adam und Almog. "Das waren Fans aus Irland, die bei jeder Erwähnung Israels losgepfiffen haben", so Adam. Die deutschen Fans nebenan hingegen waren "unsere Freunde, so wie es immer beim ESC sein sollte." Für die beiden war es der sechste Eurovision Song Contest, sie besuchen jedes Jahr Proben, Halbfinals und Finale. Ihre große Leidenschaft. Doch dieses Jahr, sagt Adam, hätte er kurz vorm Abflug aus Tel Aviv überlegt, ob er alles absagen solle. Massenproteste auf Malmös Straßen, Hetze gegen die israelische Sängerin. Doch er wagte es. Wenn auch mit Vorsichtsmaßnahmen. "Wir haben uns Hintergrundstorys über andere Herkunftsländer ausgedacht, seit wir in Malmö sind. England, USA. In jedem Café wird man ja gefragt, woher man komme. Hier weiß man nie, wie sie auf die Antwort ‘Israel’ reagieren würden."

Almog (links) und Adam (rechts) aus Israel wollten sich die Stimmung beim Finale nicht von Pfiffen verderben lassen. In Malmö gingen sie nicht mit Israel-Flagge auf die Straße, aus Angst vor Übergriffen
Almog (links) und Adam (rechts) aus Israel wollten sich die Stimmung beim Finale nicht von Pfiffen verderben lassen. In Malmö gingen sie nicht mit Israel-Flagge auf die Straße, aus Angst vor Übergriffen
© Katharina Kunert

Almog trägt am Abend des Finales ein T-Shirt mit der Aufschrift "Israel". Doch das ginge nur innerhalb der Arena, umgeben von ESC-Fans. Andere tragen doch auch ihre Flaggen durch Malmö? Bitteres Lachen. "Das können wir nicht, nicht hier, nicht dieses Jahr". Aber sie wolle gar nicht politisch werden, dafür sei sie nicht zum ESC gekommen. Palästina-Rufe dringen durch die Glastüren der Arena. Almog zieht sich einen Pullover über ihr Israel-T-Shirt.