Presseschau "Vorurteile über raffgierige Politiker bestätigt": So urteilt die Presse über den EU-Korruptionsskandal

EU-Vizeparlamentspräsidentin Eva Kaili
Die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Eva Kaili, sitzt wegen Korruptionsvorwürfen in U-Haft
© Eric Vidal / European Parliament / DPA
Die EU wird von einem historischen Skandal erschüttert: Im Herzen der Union ist ein Korruptionsskandal aufgedeckt worden. Deutsche Medien sehen die Glaubwürdigkeit des EU-Parlaments gefährdet.

Mehrere EU-Politiker wurden am Freitag und Samstag festgenommen. Am prominentesten ist Eva Kaili, griechische Politikerin und Vizepräsidentin des EU-Parlaments. Bei ihr haben die belgischen Behörden "Säcke voll Bargeld" gefunden, das aus Katar stammen soll. Kaili und weitere Politikerkollegen sitzen in U-Haft. Am Montag will die Präsidentin des EU-Parlaments mit den Fraktionen darüber beraten, ob Kaili endgültig abgesetzt werden soll. Und die Presse kommentiert, wie es in solchen Fällen üblich ist. Ein Überblick:

Der Korruptionsskandal "ist ein Warnschuss für alle Parlamente"

"Augsburger Allgemeine": "Der Skandal um EU-Parlamentsvizepräsidentin Eva Kaili erschüttert das politische Brüssel. Erhärtet sich der Verdacht, bedeutet dies nicht nur einen immensen Vertrauensverlust für die Abgeordneten aller Parteien. Es wäre eine Katastrophe für die gesamte EU. Als Hüter westlicher Werte und Herz der europäischen Demokratie betont das Parlament gerne, wie wichtig Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sind. Europas Volksvertreter gefallen sich in der Rolle der Moralkeulen-Schwinger, insbesondere im Kampf gegen Korruption. Oft genug haben sie Grund dazu. Doch die schärfste Waffe wird stumpf, wenn es nun im eigenen Laden 'bandenmäßige Korruption und Geldwäsche' gäbe."

"Badische Zeitung": "Das Europaparlament muss nun die Immunität der Verdächtigen sofort aufheben und so dafür sorgen, dass die Korruptionsvorwürfe gegen Abgeordnete aus den eigenen Reihen aufgeklärt werden können. (...) Die vom Europaparlament wegen Rechtsstaatsverstößen gegeißelten Regierungen Ungarns und Polens wittern nun Morgenluft. Sie wollen sich nicht von Abgeordneten an den Pranger stellen lassen, die ihr eigenes Haus nicht in Ordnung halten können. Hierin liegt ein viel größeres Problem für die EU als in den nun zutage geförderten unsauberen PR-Methoden des Emirats am Golf. (...) Bislang war das Parlament die mahnende moralische Instanz. Sie fehlt nun."

"Frankenpost": "Der Skandal ist ein Warnschuss für alle Parlamente – auch für den Deutschen Bundestag, in dem mehr Lobbyisten einen Hausausweis haben als das Parlament Abgeordnete hat. Es gehört zu den Errungenschaften der Demokratie, dass die gewählten Volksvertreter ihre Entscheidungen frei fällen können. Verlieren sie diese Fähigkeit – sei es durch politischen Druck, finanzielle Einflussnahme oder Androhungen von Gewalt –, ist die Demokratie in Gefahr."

Europas Rolle als Hüter der Werte ist gefährdet

"Süddeutsche Zeitung": "Für das EU-Parlament hätte es schlimmer nicht kommen können. Denn dessen schärfste Waffe ist doch eigentlich die Moral: Erst vor Kurzem feierte das Hohe Haus seinen 70. Geburtstag, stolz auf seine Rolle als einzige Institution der EU, die direkt vom europäischen Volk gewählt wird. Aber es darf immer noch keine eigenen Gesetze auf den Weg bringen; es wird in den aktuellen Krisenlagen von Kommission und Mitgliedsländern häufig übergangen. Umso überzeugter übt das Parlament seine Rolle als Hüter wahrer europäischer Werte aus. Diese Werte vertritt das Haus auch, wenn es um Missstände außerhalb der EU geht – zum Beispiel in einer Resolution, die die Fußball-WM in Katar als Schande verurteilte. Und nun ahnt man plötzlich, warum manche Sozialdemokraten gar nicht so Feuer und Flamme waren für diese Resolution."

"Handelsblatt": "Das EU-Parlament sieht sich als Vorkämpfer gegen Bestechung und Bestechlichkeit. Seit Jahren fordern die Abgeordneten, dass die Union gegen Kleptokraten in ihren eigenen Reihen vorgeht – insbesondere gegen Ungarns Premier Viktor Orban, der den Rechtsstaat aushebelt und eine Günstlingswirtschaft pflegt. Ausgerechnet jetzt, da die Kommission endlich handelt und Mittel aus dem EU-Haushalt und dem Corona-Wiederaufbaufonds an Ungarn wegen mangelnder rechtsstaatlicher Standards nicht auszahlt, erschüttert der Korruptionsfall Brüssel. Orban wird es leichtfallen, seine Kritiker als Heuchler darzustellen. Er könnte zum großen Nutznießer der Affäre werden. Das darf nicht geschehen. (...) Zwar sind die Transparenzregeln schon heute streng. Doch bei Kontakten zu Drittstaaten gibt es Lücken, die geschlossen werden müssen. Auch der Vorschlag zur Einrichtung eines unabhängigen EU-Ethikgremiums muss rasch umgesetzt werden."

"Stuttgarter Nachrichten": "Die schlimmsten Vorurteile über vermeintlich raffgierige Politiker und bürgerferne demokratische Institutionen, die zu Selbstbedienungsläden verkommen, scheinen bestätigt. Dieser Korruptionsskandal wird die Politikverdrossenheit der Menschen weiter befeuern. Müßig ist der Einwand, dass die Aufdeckung der wahrscheinlichen Schmiergeldzahlungen an die Vizepräsidentin des europäischen Abgeordnetenhauses durch die Polizei ein Beweis dafür ist, dass die Kontrollmechanismen funktionieren. Der Skandal ist vor allem ein Warnschuss für alle Parlamente. Das gilt auch für den Deutschen Bundestag, in dem mehr Lobbyisten einen Hausausweis haben, als das Parlament Abgeordnete hat."

Ist Katar wirklich ein besserer Handelspartner als Russland?

"Frankfurter Allgemeine Zeitung": "Warum sollte Qatar eine Vizepräsidentin bestechen, die außerhalb ihrer griechischen Heimat kaum jemand kennt und die niemand je für ein Brüsseler Machtzentrum hielt? (...) Es scheint, als hätte das Emirat am Golf das Parlament wichtiger genommen, als es die von ihm vertretenen EU-Bürger selbst tun. (...) Die Mehrheit der Abgeordneten sollte ihre Empörung in Energie verwandeln, um jetzt eine Lücke im Transparenz-Regime der EU-Institutionen zu schließen: Auch Interessenvertreter von Drittstaaten müssen vom Transparenzregister erfasst werden. Allerdings sollte man sich nichts vormachen. Eine solche Reform hätte einen plumpen Fall von Bestechung wie den nun offenbar aufgedeckten nicht verhindert – und auch der ramponierte Ruf des Parlaments wird sich so nicht einfach verbessern lassen."

"OM-Medien": "Unweigerlich drängt sich die Frage auf, ob Katar ein guter Handelspartner sein kann und wirklich das kleinere Übel im Vergleich zu Russland ist, wie Wirtschaftsminister Robert Habeck nach dem Abschluss des Deals über die Lieferung von Flüssiggas mit dem Emirat euphemistisch durchblicken ließ. Diese Sichtweise bedarf nach dem Auffliegen des Brüsseler Parlamentsskandals dringend einer Korrektur. Auch wenn es bitter ist: Mit korrupten Scheichs sollte Deutschland keine Geschäfte machen."

DPA
cl