Es ist deprimierend zu sehen, wie eine meiner beiden Heimaten den Bach runtergeht. Auch wenn es mich nicht wirklich erstaunt, denn es gab ja schon seit längerem deutliche Anzeichen dafür, dass Griechenland mit Vollgas unterwegs war in eine Sackgasse. Auch die ermogelten Haushaltszahlen haben das nicht verdecken können.
Die Lage ist auch deswegen so tragisch, weil es vor allem diejenigen trifft, die am wenigsten etwas dafür können: die kleinen Leute. Auch wenn es hier in Deutschland immer zu kurz kommt: Nicht alle haben in der Vergangenheit an der Misswirtschaft partizipiert und von ihr profitiert.
Viel Geld, wenig Leistung
Im Gegenteil: "Die" Griechen, auf die die deutsche Boulevardpresse und nicht nur die so gerne eindrischt, gibt es nicht. Die Gesellschaft war bereits vor der Krise tief gespalten. Die eine Gruppe, vor allem ein Teil der Beamten und Angestellten staatlicher Unternehmen, wurden für griechische Verhältnisse sehr gut bezahlt, ohne viel dafür leisten zu müssen. Viele von denen hatten dann noch Nebenjobs, die eigentlich ihre Hauptbeschäftigung waren.
Zum Kern des Problems zählen ebenso viele große und kleine Geschäftsleute, deren Unternehmertum sich darin erschöpft hat, mit Schmiergeldern und politischem Einfluss völlig überteuerte Staatsaufträge abzugreifen. Auf ihre Rechnung gehen viele der Milliarden, die dem griechischen Staat nun fehlen. Auch deutsche Unternehmen haben von diesem System übrigens profitiert.
Auf der anderen Seite sind diejenigen, die nicht vom Staat alimentiert werden und sich in der Privatwirtschaft durchschlagen müssen. Unter sehr schweren Bedingungen übrigens, viel schwerer als hier in Deutschland. Viele haben ungeregelte, überlange Arbeitszeiten und verdienen gerade einmal 700 bis 800 Euro im Monat. Nicht wenige kommen nur mit einem Zweit- oder Drittjob über die Runden. Denen werden nun die Löhne drastisch gekürzt , und sie müssen darüber hinaus auch noch höhere Steuern zahlen. Wenn sie überhaupt noch Arbeit haben und nicht bereits arbeitslos sind. Diese Menschen sind vollkommen zu Recht darüber empört, weil sie etwas ausbaden müssen, was andere angerichtet haben.
Im Dschungel Griechenland gelten andere Gesetze
Natürlich haben viele das Spiel von Steuerhinterziehung und Korruption mitgespielt. Und nicht wenige haben davon sehr stark profitiert, wie etwa wohlhabende Ärzte, Rechtsanwälte oder Unternehmer, die fast nichts an den Fiskus abgeführt haben. Den Schaden haben nun die anderen. Doch man sollte nicht jedem, der Gesetzte und Regeln verletzt hat, einen Vorwurf machen. Dass die Deutschen die Moralkeule schwingen und die Griechen in Gänze verurteilen, ist reichlich unfair. Hier leben die Menschen in geordneten, wohlsortierten Verhältnissen. Dementsprechend ist es auch leicht, sich wohlgesittet zu benehmen. Doch Griechenland ist ein Dschungel, und das war es schon vor der Krise. Und um im Dschungel zu bestehen, muss man die entsprechenden Überlebenstechniken anwenden. Besonders die Jüngeren verabscheuen das etablierte System der Misswirtschaft zutiefst, spielen aber dennoch nach seinen Regeln, weil es eben anders nicht geht.
Ein Beispiel: Griechenland hat eine der höchsten Selbstständigenquoten in Europa. Selbstverständlich werden all die Händler, Handwerker und Hoteliers von Steuerfahndern überprüft. Dann stehen da plötzlich ein paar korrupte Beamte im Haus, die die chaotische Rechtslage dazu ausnutzen, um unverhohlen Schmiergelder zu erpressen. Sie haben die Möglichkeit, einen dranzukriegen, ob man nun Steuern zahlt oder nicht. Und natürlich zahlen die Menschen. Das ist die ziemlich missliche Lage, vor allem für die vielen, die nur mittlere und kleinere Einkommen haben.
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Andreas Douvitsas ...
... entstammt einer deutsch-griechischen Familie. Er ist in Athen aufgewachsen und hat in Hamburg sowohl Politikwissenschaften als auch Volkswirtschaft studiert. Der 39-Jährige lebt mit Frau und zwei Kindern in Hamburg und arbeitet für die Wirtschaftsbehörde der Hansestadt.
Auch die Profiteure der Misswirtschaft demonstrieren
Welche Motivation soll aber jemand haben, sich an Gesetze zu halten, der so etwas erlebt? Zumal man für viele Leistungen doppelt zahlt. Einmal in Form von Steuern und Sozialabgaben an den Staat, der diese eigentlich erbringen sollte, dies jedoch nicht tut. Und dann noch einmal an einen privaten Anbieter, der die Lücke, die der Staat hinterlässt, schließt.
Nun gehen beide Seiten, die Leidtragenden und die Nutznießer des gescheiterten griechischen Wirtschaftssystems, auf die Straße und protestieren lautstark gegen die sozialistische Pasok-Regierung - diejenigen, die auf Biegen und Brechen ungerechtfertigte Privilegien verteidigen. Und diejenigen, die früher schon mehr schlecht als recht gelebt haben und denen es nun noch übler geht. Was sie aber eint, sind ihre gemeinsamen Gegner: die Regierung, die EU, der Internationale Währungsfonds (IWF), ausländische Wirtschaftsmächte wie Deutschland.
Die Reste der Wirtschaft werden zerstört
Wenn von den Griechen verlangt wird, dass sie angesichts ihrer Lage doch bitte mehr Vernunft und Einsicht zeigen mögen, dann muss ich sagen: Wenn jemandem der Boden unter den Füßen weggezogen wird, kann man kaum von ihm erwarten, dass er hochrational und ruhig reagiert. Die persönliche Betroffenheit ist aber nur der eine Grund für die Wut. Diese hat ebenso ein starkes rationales Motiv. Denn die Menschen haben den Eindruck, dass der harte Sparkurs außer Entbehrungen nichts bringt, sondern die letzten Reste der Wirtschaft kaputtmacht.
Man kann lange über den volkswirtschaftlichen Sinn und Unsinn der Sparauflagen durch die Kreditgeber philosophieren - wirklich schlüssig und überzeugend ist der Plan für Griechenland ganz sicher nicht. Zum Beispiel die massiven Steuererhöhungen: Bislang sind die erhofften Mehreinnahmen ausgeblieben. Und zwar nicht, weil die Griechen nun noch mehr Steuern hinterziehen. Es liegt vielmehr daran, dass die drastischen Ausgabenkürzungen und Abgabenerhöhungen des Staates die Nachfrage abgewürgt haben. Dadurch stürzt die ganze Wirtschaft nun massiv ab - und zwar noch schneller, als die Steuersätze steigen.
Absurde Steuererhöhung für die wichtige Gastronomie
Ein gutes, weil absurdes Beispiel ist die Mehrwertsteuer für die Gastronomie. Die soll von 13 auf 23 Prozent angehoben werden. Wäre Griechenland kein touristisches Land, könnte man sagen: Das ist in dieser Situation gerechtfertigt. Aber die Gastronomie ist einer der wichtigsten Komponenten des wichtigsten Wirtschaftsfaktors. Alle Touristen messen die Kosten ihres Urlaubs an den Preisen in Restaurants, Bars und Tavernen - wenn man nun ausgerechnet diese erhöht, dann schneidet man sich ins eigene Fleisch.
Auch das Marketingbudget für den Tourismus wurde zusammengestrichen. Im Ausland taucht Griechenland als Urlaubsland nirgendwo mehr auf. Die schärfsten Konkurrenten, wie etwa die Türkei oder Kroatien, werben unverdrossen weiter und sind zudem noch günstiger. Wie soll Griechenland denn unter diesen Voraussetzungen sein wichtigstes Exportgut an den Mann und die Frau bringen? Der Kreditgeber-Troika, die angeblich so sehr darauf achtet, dass Griechenland eine vernünftige Wirtschaftspolitik macht, fällt dieser Irrweg jedoch offenbar nicht weiter auf.
Sparvorgaben der Wirtschaft das Rückgrat
Die Troika verspricht, den Griechen den Rücken zu stärken, bricht mit ihren harschen Sparvorgaben der Wirtschaft aber das Rückgrat. Es gibt so viele Bereiche, in denen Griechenland sparen kann, aber nicht an einer der Lebensadern des Landes. Solche Paradoxien sind es, die die Menschen ebenso wütend machen.
Ebenso ist es natürlich verständlich, wenn die Bürger in Deutschland und anderen europäischen Ländern sich empören: Darüber, dass sie fremde Rechnungen begleichen sollen und dem kollabierten griechischen Patienten einen äußert kostspieligen Daueraufenthalt in der Intensivstation der europäischen Solidargemeinschaft finanzieren müssen. Aber auch hier geht es nicht ohne den Appell an die Vernunft und an die Einsicht, dass es letztlich um Gefahrenabwehr im ureigensten Interesse geht.
Ohne Hilfe wäre Griechenland erst recht am Ende
Was aber bei den Griechen ankommt, ist Frust und Zorn, der sie in die nationalistische Verschwörungsecke führt. Viele Griechen glauben, die EU und allen voran die Deutschen wollen ihnen schaden und ihr Land übernehmen. Zu diesem Eindruck tragen nicht zuletzt auch viele arrogante und letztlich ebenso nationalistische Kommentare und Äußerungen bei, mit denen die Griechen und ihr Heimatland hierzulande in letzter Zeit bedacht wurden. Der Schaden, den solche Statements anrichten, ist nicht zu unterschätzen.
Andersherum muss auch in Griechenland verstanden werden, dass es nicht so weitergehen kann und die EU gerade dabei ist, gigantische Milliardenbeträge aufzubringen, um das Land zu retten und nicht zu zerstören. Denn ohne die Hilfe von außen wäre Griechenland erst recht am Ende. Viele Anforderungen des Rettungspakets mögen nicht durchdacht sein, vieles ist auch dumm und kontraproduktiv, aber das ist immer noch besser als nichts. Allerdings würde es ebenso helfen, der in Not geratenen Maschine Griechenland ausreichend Treibstoff für die Notlandung zu lassen, statt darauf zu beharren, dass sofort sämtliche Triebwerke abgeschaltet werden, um Sprit zu sparen.