Am Montag besuchte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Ort, der wahrscheinlich noch lange als Symbol für den brutalen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gelten wird: Butscha. Der Vorort von Kiew, gut 60 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, stand wochenlang unter der Besatzung russischer Truppen. Nach ihrem Abzug zeigte sich dort ein Bild des Schreckens: Leichen von Zivilisten lagen auf den Straßen, viele von ihnen wurden mit Kopfschüssen getötet, manchen waren die Hände auf den Rücken gebunden.
Auch Wolodymyr Selenskyj war das Entsetzen über die mutmaßlichen Gräueltaten der russischen Armee anzusehen. Nirgends zeigte sich die Brutalität des Aggressors deutlicher als in Butscha, und wohl auch nie zuvor war dem ukrainischen Präsidenten so deutlich anzumerken, welche Bürde durch diesen Krieg auf ihm lastet. Fotos aus Butscha zeigen einen bekümmerten, niedergeschlagenen Mann, mit deutlichen Furchen und Falten im Gesicht, in das sich Trauer, Wut und Verzweiflung gegraben haben.
Wolodymyr Selenskyj erschüttert bei Besuch in Butscha
Im Vergleich zu seinem Erscheinungsbild noch vor einigen Wochen wirkt Selenskyj um Jahre gealtert – nicht nur, weil er sich in Kriegszeiten einen Vollbart hat stehen lassen. Der ukrainische Präsident geht voran, kämpft in Reden für sein Volk und riskiert sein Leben, doch auch bei ihm hat der russische Angriff seine Spuren hinterlassen.
Das Grauen von Butscha: die brutale Realität des Krieges

Aus seinen Gefühlen macht der 44-Jährige keinen Hehl: Es breche ihm das Herz, sagte Selenskyj in Butscha, dass er erst jetzt von allen führenden Politikern der Welt Äußerungen höre, "die schon vor langer Zeit hätten gemacht werden sollen, als bereits alles völlig klar war." Er forderte erneut stärkere Sanktionen gegen Russland. "Aber war es wirklich notwendig, darauf zu warten, um Zweifel und Unentschlossenheit abzuwehren? Mussten Hunderte unserer Leute qualvoll sterben?"

Wolodymyr Selenskyj: Die Last des Ukraine-Krieges liegt schwer auf ihm
Vor seiner politischen Karriere hatte Selenskyj Jura studiert und zunächst als Schauspieler und Komiker gearbeitet, in der Politik wurde er trotz seiner Wahlerfolge lange nicht ernstgenommen. Im Ukraine-Krieg aber wuchs er zum Anführer heran, der sich internationalen Respekt verdiente: Selenskyj schickte in T-Shirts und Flecktarn-Montur Videobotschaften in die ganze Welt, er weigerte sich, trotz Lebensgefahr das Land zu verlassen.
Nicht nur in seiner Heimat machte ihn das zum Helden. Der ukrainische Präsident gilt längst als derjenige, der Demokratie und Freiheit auch im Namen des gesamten Westens verteidigt – was er selbst auch immer wieder betont. Diese Last, die er sich nicht selbst ausgesucht hat, liegt schwer auf ihm.

Doch neben Kampfgeist und Entschlossenheit ist in Selenkyjs Gesicht und Worten auch immer wieder Enttäuschung und ein Anflug von Bitterkeit zu hören. Per Videobotschaft wurde er unter anderem im US-Kongress, im britischen Unterhaus, im Bundestag und bei den Grammys zugeschaltet, berichtete aus dem Kriegsgebiet und warb um Unterstützung. Doch seine mitunter beinahe flehentlichen Bitten um mehr Waffenlieferungen, eine Flugverbotszone über der Ukraine oder einen Importstopp von Öl und Gas aus Russland werden oft nicht erhört. Auch die Bundesregierung stellt sich weiter gegen ein Energie-Embargo.
Nach dem Besuch in Butscha forderte Selenskyj eine lückenlose Aufklärung der Verbrechen gegen Zivilisten: "Die Zeit wird kommen, in der jeder Russe die ganze Wahrheit darüber erfahren wird, wer von seinen Mitbürgern (in der Ukraine) gemordet hat. Wer Befehle gegeben hat. Wer bei den Morden ein Auge zugedrückt hat." Er lud Journalisten aus der ganzen Welt ein, sich die zerstörten Städte anzusehen. "Lassen Sie die Welt sehen, was Russland getan hat!"