Frauen in der Osttürkei Das Leben ist kälter als der Tod

  • von Stefanie Rosenkranz
Es gibt keine Zukunft außerhalb der Ehe für die Frauen in der Osttürkei. Und oft nicht mal innerhalb der Ehe. Selbstmord ist da für viele der einzige Ausweg.

Als es Abendessen gab, kam Familie Sahin zusammen. Die Eltern, die Tante, sechs Söhne, drei Töchter. Nur Nurgül fehlte. Schließlich wurde die älteste, Ayse, 20, geschickt, um sie zu holen. Sie fand ihre kleine Schwester und schrie.

Nurgül, die eine Woche zuvor 14 Jahre alt geworden war, hatte sich im obersten Stock ihres Elternhauses erhängt.

Am nächsten Tag wurde Nurgül begraben, so will es der Islam. Ihr Fall ist einer von vielen: Mindestens 36 junge Frauen haben seit Beginn des Jahres in Batman Selbstmord begangen. Manche haben sich im nahe gelegenen Hasankeyf von den Felsen in den Tigris gestürzt, andere haben sich erhängt wie Nurgül. Die meisten haben sich erschossen, denn an Gewehren herrscht kein Mangel in Batman; in fast jedem Haus gibt es eine Waffe.

Batman liegt im wilden Osten der Türkei, eine Stunde von der kurdischen Millionenstadt Diyarbakir entfernt. Vor einem halben Jahrhundert standen hier nur ein paar armselige Hütten, doch seit 1948 in den Bergen der Umgebung Erdöl gefunden und die größte Raffinerie der Türkei gebaut wurde, quoll das Dorf zu einer 350 000-Einwohner-Stadt auf, hässlich und staubig zwar, aber lebhaft und keineswegs arm. Seit die bleierne Zeit des Bürgerkrieges zwischen der türkischen Armee und der separatistischen kurdischen PKK-Guerilla vorbei ist, brausen Cherokee-Jeeps zu jeder Tages- und Nachtzeit auf der Diyarbakir-Caddesi entlang, vorbei an nagelneuen Hochhäusern. Im Mado-Café sitzen coole Jungs und erblondete Mädchen in knallengen Jeans gemeinsam mit verschleierten Frauen und schnauzbärtigen Männern bei Milkshake und Pizza. Im einzigen Kino der Stadt, benannt nach dem linken kurdischen Filmemacher Yilmaz Güney, läuft "Da Vinci Code". Eine Grünanlage heißt "Weltfrauentag-Park", und auf einem Platz im Zentrum prangt am Sockel eines Denkmals mit Globus und Friedenstaube die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte".

Batman, regiert von der pro-kurdischen Partei DTP, die bei den letzten Lokalwahlen 74 Prozent der Stimmen erhielt, scheint eine progressive Stadt zu sein. Indes ist "nichts hier so, wie es scheint", sagt der Journalist Arif Arslan von der Lokalzeitung "Çagdas". Die Stadt ist Hochburg der Extreme und der Extremisten. Ihre berühmtesten Söhne sind Hüseyin Velioglu, Gründer der türkischen Branche der islamischen Terror-Organisation Hisbollah, und Mahsum Korkmaz, legendärer Kämpfer der PKK. Beide starben längst eines gewaltsamen Todes, doch ihre einander ausschließenden totalitären Weltbilder leben weiter in Batman, wo viele ihr Heil in Allah, dem Allmächtigen und Einzigen, suchen und andere dem Stalinismus huldigen.

Die Männer von Batman eint derzeit eins: Die unheimliche Serie von Selbstmorden ist ihnen peinlich. Sie erregte die Aufmerksamkeit des parlamentarischen Untersuchungsausschusses über Ehrenmorde aus Ankara, deren Mitglieder nach Batman reisten und anschließend den Verdacht äußerten, dass die Freitode einiger Mädchen womöglich erzwungen worden seien. Eine Sonderermittlerin der Vereinten Nationen kam zum gleichen Schluss. Sie befürchtete, dass die Reform des türkischen Strafgesetzbuches, wonach jetzt Ehrenmorde mit lebenslänglicher Haft bestraft werden müssen, vielleicht dazu geführt habe, dass einige Familien ihre Töchter in den Selbstmord getrieben hätten, um die Männer zu schützen.

Unsinn, sagen die frommen Männer von Batman, und auch, dass die Todesfälle auf keinen Fall mit dem Islam zu tun hätten, der die Frauen befreie und nicht bedränge. Schuld an den Selbstmorden sei vielmehr das Fernsehen, die Verwestlichung, der Verfall der Sitten, die Aufhebung der Ausgangssperre. "Früher waren alle ab fünf Uhr nachmittags zu Hause!", sagen sie. Und? "Das erleichterte das Familienleben." Warum? "Weil ein jeder wusste, was der andere tat." Mit anderen Worten: Schuld hat die Freiheit.

Die regierende DTP möchte dagegen, dass Batman als Stadt des Fortschritts und nicht als Ort des Frauen-Martyriums gesehen wird. Wo sonst in der Türkei hängt bitte schön die UN-Menschenrechtserklärung mitten im Stadtzentrum? Eben. Darin heißt es, dass alle Menschen frei sind und gleich, unabhängig von ihrem Geschlecht. Und auch, dass jeder das Recht auf Bildung hat. Doch was nützt das, wenn die Hälfte aller Frauen im Osten der Türkei weder lesen noch schreiben können? Und ein Drittel aller Mädchen nie eine Schule besuchen darf? Und laut Meinungsumfragen regelmäßig 30 Prozent aller Bewohner im Südosten finden, dass Frauen, die Schande über ihre Familie gebracht haben, "gemäß der Tradition" bestraft werden müssen, also mit dem Tod? Und von den 1190 Ehrenmorden, die in den vergangenen sechs Jahren in der Türkei registriert wurden, die meisten von Kurden begangen wurden?

Daran, so sagen sie, sind auf keinen Fall die Kurden schuld, die sind stets und immer Opfer des türkischen Staates, der sich der feudalen Strukturen vor Ort bediene, um zu teilen und zu herrschen.

Damit haben sie nicht ganz unrecht. "Heroische türkische Frauen! Ihr sollt nicht am Boden kriechen, sondern zum Himmel erhoben werden", sprach einst der Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk und gab den Frauen der Türkei 1934 das Wahlrecht, zehn Jahre bevor die Französinnen es bekamen. Auch führte er die allgemeine Schulpflicht ein. Doch während der türkische Staat durchaus in der Lage ist, darüber zu wachen, dass ein jeder, der Sympathien für die PKK hegt, hinter Gitter wandert, sieht er tatenlos zu, wenn kurdische Mädchen dem Unterricht fernbleiben und von ihren Familien verschachert werden wie Vieh. So kommt es, dass die Frauen im Südosten der Türkei am Boden kriechen wie eh und je.

Nicht nur den kurdischen Frauen geht es schlecht, sagen dann fortschrittliche kurdische Männer; auch das ist richtig. Überall in der Türkei werden Frauen misshandelt und verachtet, manchmal sogar von Parlamentariern. So verprügelte Halil Ürün, Abgeordneter der gemäßigt islamischen Regierungspartei AKP aus Konya, im Mai seine Frau dermaßen, dass sie zur Polizei ging. Das Paar hatte sich gestritten, weil Ürün neben seiner gesetzlichen Gattin noch zwei weitere Frauen in islamischen Ehen geheiratet hatte. "Das ist seine Privatangelegenheit", befand daraufhin Selma Kavaf, Präsidentin der AKP-Frauengruppe. "Wir sollten uns nicht einmischen. Es hat nichts mit Politik zu tun." Dem Mann geschah nichts.

"Das kann für uns kein Trost sein", sagt die 32-jährige Nurten Üzümcü. Sie ist eine von sechs todesmutigen DTP-Frauen, die in den Stadtrat gewählt wurden und allesamt dem kurdischen Patriarchat den Kampf angesagt haben. "Ich werde nie heiraten, abgesehen davon, dass mich niemand hier mehr heiraten würde", sagt Nurten. "Und wenn Sie einige Zeit in Batman verbracht haben, dann werden Sie verstehen, dass mir dadurch nicht das Geringste entgeht." Sie glaubt nicht, dass die Selbstmorde in Wahrheit getarnte Ehrenmorde sind. "Es gibt tausend Gründe hier, um sein Leben zu beenden. Falls man das Leben der Frauen als solches bezeichnen kann. Denn eigentlich liegen sie schon bei der Geburt im Sarg."

Wer an ihrer Seite die Frauen der Stadt besucht, tritt eine Reise zur dunklen Seite des Mondes an. Bald fragt man sich nicht mehr, warum sich so viele Mädchen in Batman umbringen, sondern warum es so wenige sind. Denn die allermeisten leben in einer luftlosen Welt, eingekerkert und ständig bedroht vom Tod. Vor der Ehe wird ihr Wert an der Jungfräulichkeit gemessen, danach an der Zahl der Söhne, die sie zur Welt bringen. Uneheliche Kinder gibt es nicht in Batman, ebenso wenig wie unverheiratete Mütter: Sie werden während der Schwangerschaft ermordet.

"Die Stadt ist furchtbar für Frauen", sagt Tugba Arslan, 25 und Psychologin im Frauenzentrum Selis. "Alle meine Patientinnen leben in arrangierten Ehen." Zwar könne man in der Türkei gesetzlich erst mit 16 heiraten, aber das würde hier systematisch umgangen. "Die Frauen werden mit 14, 15 Jahren in einer islamischen Zeremonie an Männer weggegeben, die sie nicht lieben und umgekehrt. Hier sind die Frauen die Ehre, Namus. Es gibt tausend Wege, sie zu verlieren. Und weil es für kurdische Männer nichts Wichtigeres gibt als die Ehre, sperren sie ihre Frauen ein. Sie dürfen sich nicht schminken, sie dürfen nicht spazieren gehen, sie dürfen nicht mit Fremden sprechen. Sie bekommen Kind auf Kind, und wenn sie keine Söhne zur Welt bringen, nehmen sich ihre Männer eine zweite Frau, gelegentlich sogar eine dritte. Ausbrechen können sie nicht, denn Scheidung kommt hier nicht infrage, das entehrt die Familie und wird häufig mit dem Tod geahndet. Polygamie dagegen ist völlig gesellschaftsfähig."

Es tobe der Selbsthass, sagt Tugbas Mitarbeiterin Aklime. "Man weiß, dass keiner sich gefreut hat, als man zur Welt kam. Wie soll man sich da respektieren? Ich habe erlebt, wie mein Vater sich eine zweite Frau nahm, weil meine Mutter nur Töchter hatte. Sie musste ihrer Rivalin das Haus zeigen. Es war entsetzlich."

Dagegen aufzubegehren erfordert eine fast übermenschliche Furchtlosigkeit. Und doch bringen manche Frauen sie auf. Nurten etwa oder ihre Parteigenossin Selma Bozkur, Tochter eines Imams und einer völlig verschleierten Mutter: "Bei uns gingen auch immer nur die Männer in die Schule, doch dann haben wir Mädchen aufbegehrt. Inzwischen studiert meine jüngste Schwester." Im Ka-Mer, dem zweiten Frauenzentrum der Stadt, sagt die 22-jährige Inci Erdogan, die Kurse über Erziehung für Frauen veranstaltet, dass sie frisch verheiratet und im zweiten Monat schwanger ist: "Ich hoffe, dass es ein Mädchen wird! Ich werde ihr beibringen, sich zu lieben und zu achten." Ihre Kollegin Zeren Temur, 33, erzählt von ihrer kurzen Ehehölle an der Seite eines Mannes, den sie nicht kannte. "Meine Eltern haben mich zwar gefragt, ob ich ihn haben will, aber ich musste ja sagen, denn ich war schon 20 und damit für hiesige Verhältnisse weit über dem Verfallsdatum. Ich bekam einen Sohn, aber dennoch wurde ich ständig geschlagen. Irgendwann beschloss ich zu gehen. Mein Kind musste ich zurücklassen, es denkt, ich bin tot." Sie blickt auf ihre Schuhe, armselige Plastiklatschen, und verstummt. Dann sagt sie: "Der Preis für meine Freiheit war unmenschlich hoch. Aber er war nicht zu hoch. Heute kann ich in den Spiegel schauen und sagen: Du bist eine Heldin. Du hast dich von deinem Mann getrennt, und du arbeitest für Frauen. Denn nur die Frauen können den Frauen helfen."

Für Nurgül gab es keine Hilfe. Zehn Monate sind seit ihrem Tod vergangen. Ayse, die große Schwester, die nie eine Schule besucht hat - "ich musste auf meine kleinen Geschwister aufpassen" - sagt, es sei "Kismet" gewesen: Schicksal. Birgül, zwei Jahre älter als ihre tote Schwester und von einer raren Schönheit, groß, schmal, mit dunklen Haaren und tiefblauen Augen, liest nur noch im Koran oder in den frommen Romanen der islamischen Schriftstellerin Emine Senlikoglu. Sie darf zur Schule gehen und möchte islamische Theologin werden. Selbstmord sei ein unreligiöser Akt, findet sie und blickt streng. Ihre Tante schreit auf Kurdisch, sie sei zuckerkrank und zeigt ihre verfaulten Zehen. Statt über ein wertloses, da totes Mädchen zu reden, sollte man sich um sie kümmern. "Ich wurde mit 16 verheiratet, an einen 30 Jahre älteren Mann", sagt unvermutet Perisan, eine Nachbarin. "Ich wurde dazu gezwungen. Wenn ich klüger gewesen wäre, hätte ich mich auch umgebracht."

Zwischendurch starren alle in den Fernseher, das einzige Möbelstück der Familie. Dort läuft, tonlos, eine Soap-Opera, die in Istanbul spielt, man sieht den Bosporus und Frauen im Bikini, die in einem Schwimmbad planschen. Die Sendung könnte vom Mars kommen. Keine der Anwesenden war je in der Nähe eines Bikinis oder eines Schwimmbads; der Bosporus ist Lichtjahre entfernt von Batman.

Was für ein Mädchen war Nurgül? Ein glückliches Mädchen, sagen alle, ein sehr glückliches Mädchen sogar. Ein freches Kind, sagt die Tante, ich bin außerdem herzkrank, warum reden wir über Nurgül? Sie ist tot, und was geschehen ist, ist geschehen.

Dann betritt Fatma den Raum, Nurgüls Mutter. Sie ist 42 Jahre alt und sieht viel älter aus. An ihr hängt ein kleines Mädchen, Zeynep, sechs Jahre alt, das Nesthäkchen der Familie. Es ist, als hätten die beiden einen Pakt geschlossen: Zwischen sie passt kein Blatt. Nurgül, sagt ihre Mutter, während Tränen aus ihren weit geöffneten Augen rinnen. Sie war so hübsch und so lebhaft. Jajaja, sagt die Tante, und ich bin zuckerkrank, und wer kümmert sich um mich? Sie war wie ein Junge, sagt Fatma, sie wollte ein Junge sein. Das sagte sie auch: Ich will ein Junge sein. Sie schnitt sich die Haare selbst und machte, was sie wollte. Sie fuhr mit dem Fahrrad durch die Gegend und besuchte Hochzeiten, zu denen sie nicht eingeladen war.

Muss man sich deswegen in Batman das Leben nehmen? Nein, gar nicht, sagt Fatma. Sicher, ihr Mann, der von morgens bis abends auf den nahe gelegenen Tabakfeldern schuftet, sei sehr streng mit ihr und seinen erwachsenen Töchtern. "Sie dürfen sich nicht einmal auf dem Balkon zeigen. Und mir sagt er oft, wie hässlich und dunkel ich sei und dass er sich deswegen eine zweite Frau nehmen würde. Aber das ist bloß ein Witz, er meint das nicht so." Nurgül sei ein Kind gewesen, sie habe ihre Periode noch nicht gehabt. "Mein Mann hat sie geliebt wie einen Sohn, er ließ ihr alles durchgehen." - "Eben", sagt die Tante. "Ich weiß nicht, warum sie das getan hat", sagt die Mutter, "ich habe sehr viel Arbeit, ich habe nie über Nurgül nachgedacht, außer danach, als es zu spät war." Sie drückt Zeynep an sich.

Mehr fällt niemandem zu dem toten Mädchen ein.

"Unsere Mütter, unsere Frauen, unsere Geliebten/sie sterben so, als hätten sie nicht gelebt/und haben an unserem Tisch/ihren Platz erst nach dem Ochsen", schrieb einst Nazim Hikmet. So starb auch Nurgül: Es scheint, als habe sie nie gelebt. Von ihr blieb nichts, außer einem Foto und einem Grab, auf das ihr Name mit Farbe geschmiert wurde. Eine Inschrift in Stein, das war sie nicht wert.

Und doch hat sie Spuren hinterlassen. Ihre 22-jährige Nachbarin Kader wird bald einen Mann heiraten, den sie liebt, im fernen Tekirdag nahe der bulgarischen Grenze. Kader raucht vor ihren Eltern und trägt kurzärmlige T-Shirts. "Die Mädchen hier haben einfach keinen Mut", sagt sie. "Wir müssen unser Leben in die Hand nehmen." - "Niemals", sagt ihr Vater, "werde ich sie mehr zu etwas zwingen. Ich möchte, dass meine Tochter lebt."

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