Er könnte zum ersten Meilenstein auf dem Weg zu einem palästinensischen Staat werden. Oder er könnte die Einverleibung großer Teile des Westjordanlandes durch Israel zementieren: der Gaza-Plan von Ministerpräsident Ariel Scharon, über den das Parlament in Jerusalem am heutigen Dienstag abstimmt. Nur eine deutliche Mehrheit verschafft dem Vorhaben, den Gazastreifen an die Palästinenser abzutreten und vier jüdische Siedlungen im Westjordanland zu räumen, die notwendige Legitimität und nimmt den Hardlinern den Wind aus den Segeln.
Kritik an "diktatorischen Methoden"
Nachdem Israel 35 Jahre seine Siedlungen auf palästinensischem Territorium ausgebaut hat, könnte die für den Abend erwartete Knesset-Abstimmung einen historischen Wendepunkt markieren. Ausgerechnet Scharon - bislang einer der stärksten Verfechter von Siedlungsexpansionen - hat in den vergangenen Wochen mit großer Entschlossenheit für seinen Abzugsplan geworben. Weil er sich über das ablehnende Votum seiner Likud-Partei hinwegsetzte und widerspenstige Kabinettsminister feuerte, werfen ihm Kritiker inzwischen diktatorische Methoden vor.
In den letzten Tagen vor dem Knesset-Showdown zitierte Scharon unentschiedene Abgeordnete in sein Büro und drohte weiteren Regierungsmitgliedern mit Entlassung, sollten sie sich nicht auf Linie bringen lassen. Das Lager der Siedler startete eine massive Gegenkampagne. Die Parlamentarier wurden mit E-Mails und Anrufen überschüttet, nachdem eine Liste mit ihren Adressen an Siedler-Aktivisten verteilt worden war. Der Likud-Abgeordnete Eli Aflalo brach unter dem Druck zusammen und fand sich im Krankenhausbett wieder.
Die Schlacht wird längst auch auf den Straßen ausgetragen. In Tel Aviv hat die NGO Schuvi ein 13 Meter hohes Plakat aufgestellt. "203 Israelis sind seit ’67 im Gazastreifen getötet worden. Kommt raus aus dem Todesstreifen!" "Jetzt oder nie" steht auf den Flugblättern und Autoaufklebern der zahlreichen Abzugsbefürworter, die zu einer Massendemonstration unmittelbar vor der Abstimmung aufgerufen haben.
Siedler wiederum wollen Tausende Anhänger mit Bussen vor das Parlamentsgebäude fahren. Ihr Slogan: "Scharon spaltet das Land." Schon am Montag, zu Beginn der Beratungen, war ein gigantisches Polizeiaufgebot im Einsatz. Hubschrauber standen bereit, um die Politiker einfliegen zu können, sollten Demonstranten die Zufahrtsstraßen zum Parlament blockieren.
"Ende der israelischen Besatzung"
Dabei herrscht über die tatsächlichen Konsequenzen des Plans Unklarheit. Die Siedlervertreter kämpfen auch deswegen so erbittert, weil sie im Gaza-Rückzug nur die Ouvertüre zu Siedlungsaufgaben im Westjordanland vermuten. "Die Dramatik der Parlamentsabstimmung kann gar nicht übertrieben werden", befand Leitartikler Sima Kadmon in der Zeitung "Jediot Ahronot". "Am Dienstag wird die Knesset das Ende der israelischen Besatzung erklären."
Ganz anders sehen es viele im linken, zu Zugeständnissen an die Palästinenser bereiten Lager. Sie argwöhnen, dass der Status quo im Westjordanland nur gefestigt wird, sobald die 8.800 Siedler den Gazastreifen verlassen haben und vier isolierte Siedlungen im Westjordanland geräumt sind. "Wenn es nur Gaza ist, ist es eine Katastrophe", sagte Jossi Beilin von der friedensbereiten Jahad-Partei, der Scharon nur mit großen Bauchschmerzen seine Stimme geben will. "Einen Tag nach dem Abzug werden wir dafür kämpfen, dass ’Gaza zum Ersten’ nicht ’Gaza zum Letzten’ war."
Scharons Bürochef Dov Weisglass hat Spekulationen genährt, der Regierungschef präsentiere sich derzeit als Wolf im Schafspelz. Dieser habe seine Position gegenüber den Siedlern keinesfalls geändert und wolle mit seinem Plan lediglich sicherstellen, dass 190.000 von 240.000 Siedlern für immer im Westjordanland bleiben können. Scharon selbst erklärte, die Loslösung vom Gazastreifen werde den Zugriff auf die großen Siedlungen im Westjordanland festigen.
Bei der Parlamentsabstimmung rechnet Scharon, dessen Regierung über keine eigene Mehrheit verfügt, mit 65 der 120 Stimmen. Dabei würde die erste Entscheidung für eine Aufgabe jüdischer Siedlungen in der Geschichte der Knesset erst durch die Stimmen der Opposition möglich: 21 Abgeordnete der Arbeitspartei und sechs von Jahad sind dafür. Von den 40 Likud-Mitgliedern wollen nur 22 ihre Hand für den Abzug heben.
Nicht alle Rabbis dürfen ablehnen
Der Ministerpräsident versucht, die beiden ultraorthodoxen Parteien Schas und Vereinigtes Tora-Judentum zur Enthaltung zu bewegen, damit ein Sieg nicht nur durch die säkularen "Tauben" im Parlament zu Stande kommt. Der Kommentator Hanan Crystal vom Israelischen Rundfunk ist der Ansicht, Scharon könne sich zum Sieger erklären, "wenn sich mindestens eine religiöse Partei enthält, wenn nicht alle Rabbis mit 'Nein' stimmen und eine Mehrheit der Likud-Abgeordneten mit 'Ja'". Das Vereinigte Tora-Judentum könnte Scharons Feigenblatt werden.