Kommentar Tony pfeift auf die lahmen Enten

Machtpolitisch hat der britische Premier Tony Blair das Richtige getan - er hat das Verfassungsreferendum abgesagt, ohne auf die "lahmen Enten" Jacques Chirac und Gerhard Schröder zu achten. Auch der EU erweist er so einen Dienst.

Tony Blair kann sich bei Franzosen und Niederländern für ihr Nein zur EU-Verfassung bedanken. Denn die Gründungsmitglieder waren es, die dem Briten die Möglichkeit eröffnet haben, sich des eigenen, leidigen Referendums zu entledigen, ohne als europäische Spielverderber dazustehen. Thank you, Paris, thank you, Amsterdam.

Briten lieben EU so sehr wie Hautausschlag

Machtpolitisch ist die Absage des Referendums für Blair der einzige Weg. Er vermeidet so, den Briten mit der EU-Verfassung etwas anpreisen zu müssen, was sie traditionell in etwa so sehr schätzen wie Deutsche und Hautausschlag. Die Briten haben es einfach nicht mit der Union, vor allem nicht mit einer Union, die am geliebten königlichen Nationalstaat und dessen Souveränität rüttelt. Deshalb haben sich die Briten seit ihrem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft immer bemüht, Sand in das Getriebe der Integrations-Enthusiasten zu streuen. Ihr Ziel war und ist nach wie vor eine "flache EU", die Demokratie und Marktwirtschaft in möglichst viele Länder exportiert und eine große, liberale Freihandelszone schafft. Allein der Gedanke an ein allzu mächtiges Brüssel, wie es Deutsche und Franzosen in der Vergangenheit gerne propagiert haben, bringt viele Briten auf die Barrikaden.

Himmelfahrtskommando Referendum

In Umfragen waren die Gegner der Verfassung in Großbritannien fast durchweg in der Mehrheit. Selbst wenn alle anderen Staaten die EU-Verfassung abgesegnet hätten, wäre es für Blair schwer gewesen, hier im nächsten Frühjahr einen Erfolg zu erzielen. Mehr noch. Der Premier wäre gezwungen gewesen, sich nicht nur für die EU-Verfassung einzusetzen, er hätte sogar sein eigenes Schicksal an dieses politische Himmelfahtskommando koppeln müssen - und hätte dabei aller Voraussicht nach sein Amt verloren, denn ein Premier, der das Volk nicht von seinen Projekten überzeugen kann, ist in der Großbritannien kaum haltbar.

Die Forderungen der "lahmen Enten"

Und damit wären wir bei den "lahmen Enten", denen Blair mit seinem Entschluss, das Referendum auf Eis zu legen, nun den Rücken kehrt: Jacques Chirac und Gerhard Schröder. Im US-Polit-Jargon steht der Begriff "lame duck" für Politiker, deren Amtszeit sich dem Ende entgegenneigt oder deren Abgang als sicher gilt und die daher nicht mehr die Kraft und die Macht haben, politische Projekte durchzusetzen. Auf Schröder, dem, wenn denn endlich gewählt wird, eine verheerende Niederlage droht, trifft das zwar eher zu als auf den französischen Präsidenten. Aber auch Chirac ist nach dem Nein seiner Landsleute schwer angeschlagen. Beide Politiker dringen in bewährter Manier darauf, den Ratifikationsprozess der EU-Verfassung fort zu setzen. Blair pfeift nun auf diese "lahmen Enten" - ein weiterer Beleg für deren Bedeutungsverlust in der EU. Mit schmerzhaften Racheakten muss er nicht rechnen.

Gnadentod für die EU-Verfassung

Aber nicht nur aus der machtpolitischen Sicht Blairs ist die britische Absage konsequent. Blair leistet auch der EU einen Dienst: den der Ehrlichkeit. Er macht jeden Versuch zunichte, die EU-Verfassung doch noch irgendwie irgendwo durchzudrücken. Durch derartige Mogelpackungen hätte leicht der Eindruck entstehen können, die Politik schere sich nicht um Volkes Stimme, selbst wenn diese so eindeutig gesprochen hat wie im Falle der Franzosen und Niederländer. Der Blairsche Entschluss, schön als "Denkpause" verkleidet, versperrt diesen Weg nun.

Auch wenn die Blair-Sprecher dies natürlich verneinen, so versetzt London der Verfassung nun den Todesstoß - es ist ein Gnadentod, kein Mord. Die Entscheidung ist gut, denn die EU-Staaten sollten ihre Kräfte nicht damit verschwenden, die Verfassung wieder zu beleben, sondern sie sollten sich grundsätzlich überlegen, wo es hingehen soll mit Europa. Und eines ist sicher: An der Debatte über die Zukunft Europas werden sich die Briten wieder beteiligen. Am 1. Juli übernehmen sie die EU-Ratspräsidentschaft.