Dieser Text erschien zum 20. Jahrestag des Todes von Gabriel Grüner, Volker Krämer und Senol Alit am 13. Juni 2019.
Inzwischen haben sich die Menschen in Suva Reka daran gewöhnt, dass in ihren Wohnungen sauberes Wasser aus dem Hahn kommt. Zerbombte, ausgebrannte Häuser sind abgerissen oder neu aufgebaut, die einst holprigen Straßen asphaltiert. Es ist heute auch in der 60.000-Einwohner-Stadt im Südwesten des Kosovo eine Selbstverständlichkeit, dass es 24 Stunden am Tag Strom gibt. Längst stehen die Kasernen am Stadtrand leer und verlassen. "Es wird jedes Jahr besser", sagt Ismet Suka, 60, ein Textilingenieur und Ehemann der stellvertretenden Bürgermeisterin. "Trotzdem kehren viele der Heimat den Rücken, um in Deutschland, der Schweiz oder in Österreich Geld zu verdienen."
"Die Narben des Krieges sind tief"
20 Jahre ist der Krieg nun vorbei, und Ismet Suka ist einer von wenigen mit guter Ausbildung, die hier geblieben sind. Einer von jenen, die versuchen, für die Menschen eine Zukunft zu schaffen. Gerade ist er auf einer Gedenkveranstaltung zu Ehren seines Bruders Murat, eines Zahnarztes. Murat wurde zusammen mit seiner Frau Hamide kurz vor Kriegsende von serbischen Soldaten in ihrem Haus erschossen, nachdem die seine Frau vergewaltigt hatten. Kinder spielen auf einem ausgebrannten serbischen Panzer, während auf der Bühne Reden gehalten werden. "Die Narben des Krieges sind sehr tief, die Trauer stets präsent", sagt Suka, ein Mann mit streng gescheiteltem, grau meliertem Haar. "Aber wir werden nie vergessen, wer uns den Frieden gebracht hat."
Wie für die meisten Kosovaren sind dies auch für Ismet Suka neben Bill Clinton vor allem die ausländischen Journalisten - im Besonderen zwei Kollegen des stern: der Reporter Gabriel Grüner und der Fotograf Volker Krämer. "Sie gehörten zu den wenigen, die der Welt gesagt haben, was hier passiert. Ihr Engagement war unbeschreiblich. Sie hatten eine Mission und die war: zu helfen, dass der Frieden zu uns kommt."
Vor 20 Jahren haben Volker Krämer und Gabriel Grüner ihr Engagement und ihren Einsatz mit dem Leben bezahlt, zusammen mit dem Fahrer und Übersetzer Senol Alit. Die Erinnerung an sie, posthum zu Ehrenbürgern von Suva Reka ernannt, wird auch 20 Jahre nach ihrem Tod im dem vom Krieg gebeutelten Kosovo hoch gehalten. Das ist sehr beachtenswert in einem Land, das in dem Krieg mehr als 10.000 Todesopfer und knapp 200.000 Vertriebene zu beklagen hat. Gerade in Suva Reka wurden so viele Massengräber entdeckt, wie sonst nirgends im Kosovo.
Einfühlsam, engagiert, immer für andere da
Ismet Sukas' Blick reicht vom Heimatdorf seines Bruders bis hinauf zum zwei Kilometer entfernten Dulje Pass, wo die Reporter erschossen wurden. Volker Krämer war ein Fotoreporter, der über seine grandiosen Bilder vom Prager Frühling 1968 zum stern gekommen war. Seine großen Fotostrecken aus aller Welt haben 30 Jahre lang den stern geprägt. Mit Gabriel Grüner verlor das Magazin einen außergewöhnlichen Kollegen. Einfühlsam, engagiert, immer da, wenn es galt, sich für andere einzusetzen - egal, ob innerhalb der Redaktion oder mit seinen Reportagen. Menschlichkeit lag beiden am Herzen.
"In all seinen Berichten kümmerte sich Gabriel Grüner vor allem um die Opfer, die kleinen Leute, die Wehrlosen. Vor allem das Schicksal von Kindern ging ihm nahe", würdigte ihn stern-Chefredakteur Florian Gless gerade anlässlich der Verleihung des nach ihm benannten Gabriel-Grüner-Stipendiums. Auch seine großen Reportagen haben den stern geprägt - egal, ob aus Afghanistan oder Algerien, ob über Umweltkatastrophen in Spanien oder die Hungersnot Sudan. Mit einer von ihm gestarteten Hilfsaktion kamen über 1,14 Millionen Mark (heute fast 600.000 Euro) für die hungernden Kinder dort zusammen.
Doch nichts hat sein Reporterleben so sehr bestimmt, wie der Balkan-Krieg, den er acht Jahre lang begleitete. Ein Spendenaufruf des stern, den Gabriel Grüner zu Weihnachten 1995 durchgesetzt hatte und eine seiner Reportagen begleitete, verdankte die Organisation Kinderberg fast vier Millionen Mark (heute rund zwei Millionen Euro). Und Gabriel Grüner war es, der darum bat, dass das Geld zu gleichen Teilen für kroatische, für moslemische und für serbische Kinder verwendet werde. Die Menschen hier haben das Engagement der beiden stern-Reporter nicht vergessen.
Erst vor einigen Tagen war Ismet Suka gemeinsam mit dem Bürgermeister Bali Muharremaj am Dulje-Pass, um am Ort der Tragödie alles her zu richten für die Gedenkfeier anlässlich des 20. Todestags. Sie haben die schwarze Eisenkette gestrichen, die den Gedenkstein für die drei Toten umgrenzt. Sie haben den Rasen rundum gemäht und den wuchtigen Marmorstein poliert, den Gabriel Grüners Freund Uli Reinhardt dort hat errichten lassen. Auf Deutsch und Albanisch ist darin eingraviert: "Der Regen kehrt nicht mehr zurück nach oben. Wenn die Wunde nicht mehr schmerzt, schmerzt die Narbe."
Der Tod kam am ersten Tag des Waffenstillstands im Kosovo
So ist es auch 20 Jahre nach jenem 13. Juni 1999, an dem Volker Krämer und Gabriel Grüner zusammen mit Senol Alit die kurvige Straße hinauf zum Dulje Pass gefahren sind, im Krieg eine umkämpfte Stellung. Sie kamen von Suva Reka, wollten nach Skopje, um von dort Text und Bilder in die Redaktion nach Hamburg zu übermitteln. Es war ein Sonntag, der erste Tag des Waffenstillstands. Manche nennen es den ersten Tag des Friedens. Man erwartete Ruhe. Das war ein Trugschluss. Es herrschte Chaos. In den Notizblöcken, die man später bei Gabriel Grüner fand, hatte er notiert: "Kinder attackieren mit Fußtritten serbische Soldaten. Die schießen in die Luft." Und: "Viele Serben ziehen sich zivile Kleidung an. Verstecken sich." Und viele - so auch der russische Söldner Aleksander Tschernomatschensev, damals 28 Jahre alt - suchten so schnell als möglich das Weite.
Reportage von Gabriel Grüner über den Hungertod im Südsudan
Eine abrückende serbische Militärkolonne hatte oben am Dulje-Pass die Straße versperrt. Das stern-Team im weinroten Mercedes von Senol Alit musste dahinter anhalten. Mehr als zwei Jahre hat ein Team des stern recherchiert, um herauszufinden, was sich dann ereignete. Demnach kam der Söldner Aleksander Tschernomatschensev wenig später mit weit überhöhter Geschwindigkeit in einem gestohlenen Toyota angerast, schleuderte in den Straßengraben. Der Mann in Kampfuniform stieg aus, lief zum Mercedes, schrie wütend und schoss mit seiner Kalaschnikow in den Wagen. Er feuerte das ganze Magazin leer, zerrte seine Opfer aus dem Auto und setzte mit dem Mercedes des stern-Teams seine Flucht nach Serbien fort. So wie es aussieht, mussten die drei Kollegen sterben, weil der Söldner ein Fluchtauto brauchte, um sich in Sicherheit zu bringen.
Haftbefehl gegen den ehemaligen Söldner
Das stern-Team interviewte in den Monaten nach dem Mord zahlreiche Augenzeugen, stellte sämtliches Recherche-Material der Hamburger Kriminalpolizei zur Verfügung. Und als sich zwei Jahre später ein Augenzeuge bereiterklärte, vor dem Oberlandesgericht Hamburg seine Aussage zu wiederholen, erließ das höchste Hamburger Strafgericht im Frühjahr 2001 einen internationalen Haftbefehl gegen den ehemaligen Söldner Aleksander Tschernomatschensev.
Die deutschen Justizbehörden, das Auswärtige Amt und auch der stern arbeiten seitdem an der Vollstreckung des Haftbefehls - bislang ohne Erfolg. Aleksander Tschernomatschensev war Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes. Von Anfang an wurde er von den russischen Behörden geschützt, später für verschollen erklärt. Deutsche Ermittler, die mit dem Fall befasst sind, halten es für gut möglich, dass der mutmaßliche Mörder von Geheimdienstkollegen liquidiert worden ist, um Russland so einen Prozess zu ersparen. Der Haftbefehl ist noch aktiv. Die Hoffnung, dass er vollstreckt wird, gering.
"Rache? Rache ist keine Lösung"
"Rache?", fragt Ismet Suka auf der Gedenkveranstaltung für seinen ermordeten Bruder und dessen Frau. "Ich habe keine Rachegelüste. Rache ist keine Lösung. Ich habe nur Trauer." Es gibt Tage, an denen ihn diese Trauer übermannt. Und er stellt sich die Frage: "Warum ist es passiert?" Eine Antwort kann er nicht finden. "Aber das Leben geht weiter", sagt Ismet Suka. "Ich versuche, das Vertrauen in die Menschen wieder zu finden." Es ist ihm noch nicht gelungen.
Gabriel Grüner hatte vor der Reise in den Kosovo angekündigt, dass es seine letzte in den Krieg hätte sein sollen. Er hat es Freunden und Kollegen gesagt, natürlich auch seiner Lebensgefährtin Beatrix Gerstberger. "Erzählungen über Massaker, Giftgas, Anschauen von grauslichen Leichenfotos, mein Gehirn wie gelähmt, eine Müdigkeit, die ich bei den letzten Reisen nach Bosnien auch spürte, die Vergeblichkeit, solche Sachen verhindern zu können, wen interessiert's", hatte er ihr in einer E-Mail geschrieben. Und auch von dem "Wunsch, wieder einmal etwas Schönes zu machen."
Gabriel Grüner sehnte sich, über Kunst zu berichten, über Literatur. Doch wer ihn kannte, weiß, dass ihm der Abschied von der Krisenreportage schwer gefallen wäre. Ziemlich sicher wäre er auch jetzt auf den Balkan gefahren, möglicherweise an der Seite von Volker Krämer. Der war, wie er über sich selbst sagte, spezialisiert auf die Wirklichkeit und begierig zu erfahren, wie diese aussieht. Beide hätten wissen wollen, was der Frieden den Menschen gebracht hat. Sie wussten, dass es vor allem dann wichtig ist, genau hin zusehen, wenn alle anderen längst weg schauen. Demokratie, Gerechtigkeit und Chancengleichheit sind keine Selbstverständlichkeit, nur weil die Waffen schweigen.
Es könnte gut sein, dass Gabriel Grüner und Volker Krämer nun, 20 Jahre nach dem Krieg, an der Seite von Ismet Suka stünden. Für eine Geschichte über das Kosovo hätten sie in ihm einen positiven Protagonisten gefunden. Einer, der nicht weg läuft, auch wenn dies für viele verlockend scheint. Tausende sind es, die jedes Jahr der Heimat den Rücken kehren. Allein 170 Ärzte haben sich im vergangen Jahr direkt nach dem Examen nach Deutschland aufgemacht.
Zum Gedenkstein, wie jeden Todestag
Ismet Suka hat sich in dem von der schwäbischen Stadt Fellbach finanzierten Fellbach-Haus jahrelang um vom Krieg traumatisierte Kinder und Jugendliche gekümmert. Jetzt organisiert er dort mit etlichen Helfern Musik-, Tanz- und Lesegruppen, um vernachlässigte Jugendliche von der Straße zu holen und von Drogen fern zu halten. "Das Ziel ist, ihnen eine gute Erziehung zu geben, damit diese Kinder einmal zu aktiven Stützen unserer Gesellschaft werden", sagt er.
Am 13. Juni, Volker Krämers und Gabriel Grüners Todestag, wird Ismet Suka eine Abordnung von Parlamentsabgeordneten, Gemeinderäten und dem Bürgermeister von Suva Reka anführen, die wie jedes Jahr zum Gedenkstein am Dulje-Pass zieht, um den Journalisten zu gedenken und für ihr Engagement zu danken.
