Der Mutter-Teresa-Flughafen in Tirana. Olaf Scholz steigt aus einem mausgrauen A321 der Luftwaffe. Vor ihm liegt einer dieser "Und täglich grüßt das Murmeltier"-Tage, wie sie Kanzler im Lauf ihrer Amtszeit immer öfter erleben. Tage voll mit Dingen, die man schon einmal getan hat und Sätzen, die man schon einmal gesagt hat.
Am Ende dieses Tages wird Scholz, flankiert von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, mit den Regierungschefs von sechs Balkan-Staaten wieder über Wege gesprochen haben, wie sie Mitglied der EU werden können. Er wird vom hünenhaften albanischen Premier Edi Rama erkennbar herzlich vor dessen Amtssitz empfangen worden sein. Wird mehrere folkloristische Tanzeinlagen mit bewegungsloser Miene durchgestanden haben, mehrere regionale Abkommen mitverhandelt haben, die eine Annäherung an EU-Niveau bringen sollen. Er wird gemahnt, ermutigt und besonders den Gastgeber Albanien gelobt haben.
Und doch steht sein Besuch im Schatten der großen internationalen Krisen. Insbesondere der Krieg in Nahost verfolgt den Kanzler auch bis hierher. Während Scholz nach Tirana reist, plant seit Team bereits hektisch den nächsten Trip: Am Dienstag wird der Kanzler aufbrechen nach Israel und Ägypten. Vermittlungsmission, die nächste. Es geht darum, Solidarität mit Israel zu zeigen – aber auch auszuloten, wie humanitäre Hilfe in den Gaza-Streifen gelangen kann.
Ums Vermitteln geht es auch hier, in Tirana. Im vergangenen Jahr war Scholz schon einmal da. Damals, im vergangenen Dezember, traf man sich zum Westbalkan-Gipfel. Diesmal heißt das Treffen "Berlin-Prozess", ein Format, welches Scholz' Vorgängerin Angela Merkel 2013 ins Leben gerufen hat. Im Kern geht es darum, jene Länder des Balkans, die noch nicht in der EU sind, aber hineinwollen – Albanien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro sowie Serbien – bei der Stange zu halten.
Sie sind unterschiedlich weit. Mit Serbien, Nordmazedonien, Montenegro und Albanien verhandelt die EU bereits über einen Beitritt. Bosnien-Herzegowina ist seit Dezember offiziell Beitrittskandidat. Am weitesten zurück liegt Kosovo. Es hat im Dezember einen formellen Beitrittsantrag gestellt, ist aber bislang nicht einmal von allen EU-Mitgliedern als unabhängiger Staat anerkannt und zudem wieder einmal in Spannungen mit Serbien verwickelt. Serbien hat bereits seit 2012 den Status des Beitrittskandidaten, verprellt die EU-Partner aber immer wieder damit, dass Präsident Aleksandar Vučić nach Westen blinkt, aber gelegentlich in Richtung Russland abbiegt.
Albanien ist seit 2014 offiziell Beitrittskandidat, im vergangenen Jahr begannen die Verhandlungen mit der EU. Im März nannte Scholz Albanien bei einem Empfang von Premier Rama im Kanzleramt ein "Vorbild" für die gesamte Region, weil es als erstes in der Region drei beim Dezember-Gipfel getroffene Abkommen zur Schaffung eines gemeinsamen Regionalen Marktes ratifiziert hatte.
Albanien ist eines der ärmsten Länder Europas
Der kleine Balkanstaat, der ungefähr so groß wie Brandenburg ist und in etwa so viele Einwohner wie Schleswig-Holstein hat (2,8 Millionen), braucht die Beitrittsperspektive dringend. Denn noch immer gilt Albanien als "Armenhaus Europas". Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt bei rund 650 Euro. Ärmer sind nur noch Moldawien, Kosovo und die Ukraine. Die Abwanderung ist so massiv, dass die Regierung eben ein Gesetz erließ, was den Wegzug von Ärzten einschränkte. Für Albanien ist die EU-Perspektive überlebenswichtig.
Doch anders als im Hollywood-Erfolg vom Murmeltier muss Scholz nicht einfach genügend oft solche Formate durchlebt haben, damit ein Happyend folgt. Der Krieg in der Ukraine hat nicht nur die Weltordnung durcheinandergewirbelt. Er hat auch bei den EU-Beitrittsanwärtern echte Sorge ausgelöst. Dass die EU sich vom eigentlichen "Nachwuchs" abwenden und stattdessen das Adoptivkind Ukraine bevorzugen könnte.
Noch liegt in Albanien die Zustimmung zur EU in Umfragen bei 80 Prozent und mehr. "Allerdings merkt man doch in letzter Zeit etwas Ernüchterung ob des langsamen Fortschritts in diesem Prozess", sagt Tobias Rüttershoff, Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Albanien. Dies zeige sich vor allem, seitdem die Ukraine und Moldau im Juni 2022 zu EU-Beitrittskandidaten wurden. Dabei positioniert sich Albanien – anders als etwa der EU-Kandidat Serbien – klar gegen den russischen Angriffskrieg.
Aber man habe eben bereits einen langen Beitrittsprozess hinter sich, bei dem es viele Jahre nur wenig vorangegangen sei, so der Experte Rüttershoff: "Jetzt ist sicherlich die Angst da, dass man als Albanien und als Region etwas vergessen wird von Europa. Hier müssen denke ich Deutschland und die EU auch ein klares Zeichen setzen, dass man weiter an einer EU-Integration des Westbalkans arbeitet und klare Perspektiven aufbieten."
Fast jeder zweite Deutsche gegen eine EU-Erweiterung
Bundeskanzler Scholz kann ein solches Zeichen momentan nur in Form kleiner Gesten wie der Unterstützung regionaler Abkommen und vor allem in Form warmer Worte geben. Dabei hatte er die Aufnahme der Westbalkan-Staaten zu einer der großen Missionen seiner Kanzlerschaft gemacht. Auch in Tirana betonte er noch einmal, dass es notwendig sei, die Integration aller Westbalkan-Länder in die EU zu beschleunigen.
Doch der Ukraine-Krieg und die neue Migrationskrise haben die Deutschen müde ob der zahlreichen Belastungen gemacht. Die Aufnahme weiterer Länder in die EU würde von vielen als Zumutung empfunden.
Einer Umfrage der Europäischen Kommission vom Juni ist derzeit fast jeder Zweite gegen eine Erweiterung der Europäischen Union. Viele verbinden den Westbalkan stark mit dem Fluchtweg einer großen Zahl von Migranten verbunden, der Westbalkanroute. Ein Thema, welches Scholz vor allem in bilateralen Begegnungen in Tirana anschnitt.
Enttäuschte Kandidaten sind für die EU gefährlich
Der Kanzler weiß, wie gefährlich es für die EU werden kann, wenn sich die Beitrittskandidaten aus Enttäuschung abwenden. Das hat der Fall der Türkei gezeigt.
Aber Scholz hat momentan Wichtigeres zu tun, als alle Energie auf die Frage der EU-Erweiterung zu verwenden. Die Terrorangriffe der Hamas haben den Nahen Osten über Nacht destabilisiert. Es geht um die Existenz des Staates Israels und für Deutschland auch darum, dass sich der Antisemitismus im eigenen Land in einer bizarren Allianz aus Linken, Rechten und Islamisten gerade auf der Straße Bahn bricht.
Am Dienstag will Scholz deshalb kurzfristig nach Israel reisen, nach einem Treffen mit dem König von Jordanien am Morgen. Geplant sind Gespräche unter anderem mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Am Mittwoch soll es weitergehen nach Ägypten. Beobachter gehen davon aus, dass die israelische Bodenoffensive in Gaza kurz bevorsteht.
Und dann ist da noch der Krieg in der Ukraine, der mit unverminderter Härte weitergeht und in Deutschland immer wieder neue Debatten über Möglichkeiten und Grenzen militärischer Hilfe auslöst.
Die Welt ist eine der Polykrisen geworden, in der langjährige politische Gewissheiten plötzlich nicht mehr gelten. Da mögen die "Und täglich grüßt das Murmeltier"-Momente für den Kanzler auch kleine Pausen des Luftholens sein.