Der Krieg beginnt kurz hinter Sidon. Die Straßen leeren sich, kaum noch Autos, die Metalljalousien der Geschäfte sind heruntergelassen. Vor den wenigen Läden, die noch offen sind, ducken sich die Menschen an die Wand, ständig auf der Hut vor den israelischen Bomben, die nun seit gut zwei Wochen den Libanon verheeren.
Der Weg vom halbwegs sicheren Sidon ins 80 Kilometer entfernte Tyrus ist eine Reise in ein zerstörtes Land. Schon bald ist die Küstenstraße durch riesige Bombenkrater aufgerissen. Am Rand liegen ausgebrannte Autowracks. Aus dem Hisbollah-Radiosender schallt aufpeitschender Chorgesang, skandieren tiefe Männerstimmen unisono wie ein Russenchor: "Hisbollah. Nasrallah. Wir sind die unbesiegten Soldaten des Koran". Nur noch Schleichwege durch die Berge führen nach Tyrus, einst Ziel von Zehntausenden Touristen - heute von isaelischen Bomben.
Leid, seit Jahrtausenden
Tyrus ist leer, nur wenige Autos rasen über die verwaisten Straßen, viele Fahrer haben als Friedenszeichen ein weißes Bettuch ins Fenster geklemmt. In der Ferne Geschützdonner, direkt über der Stadt das leise Brummen israelischer Aufklärungsdrohnen. In den Hotels sind Journalisten und Helfer die einzigen Gäste. Nur vor dem Rathaus drängen sich ein paar Einheimische, wollen Medikamente, einen Platz zum Schlafen, wollen Hilfe in den Wirren des Krieges.
Was hat diese Stadt in ihrer 3000-jährigen Geschichte erdulden müssen. Alexander der Große belagerte Tyrus sieben Monate. Schließlich baute er eine Landbrücke, die die einstige Insel in eine Halbinsel verwandelte, und nahm so die Stadt ein. Danach massakrierte er die 30.000 Einwohner oder verkaufte sie in die Sklaverei. Jahrhunderte später kamen die Kreuzfahrer, wieder monatelange Belagerung, wieder Massaker. Dann die Mameluken.
Heute nun die Israelis.
"Wir wollen keine Pillen"
Abel Al-Husseini versucht sie ihnen zu geben. Al-Husseini ist der Bürgermeister der Stadt. Ein kleiner, alter Mann, 70 Jahre alt, die Haut sonnengegerbt wie dunkles Leder, unter den Augen tiefe Ringe von zuwenig Schlaf. "Wenn wir wenigstens ohne Gefahr die Toten aus den Gebäuden holen könnten", klagt er. Al-Husseini hat in seinem Leben einiges erlebt. Als junger Mann ging er mit seinen Brüdern in die Elfenbeinküste, um Kakao zu exportierten. Kam dann 1976 zu Beginn des Bürgerkriegs zurück, durchlebte das gegenseitige Gemetzel, die israelische Invasion 1982, wurde schließlich vor fünf Jahren zum Bürgermeister gewählt. Jetzt ist er am Ende seiner Kräfte.
Seit zwei Wochen bombardiert die israelischen Armee Tyrus. Dabei ist die Stadt alles andere als eine Hochburg der Hisbollah. Bei den letzten beiden Wahlen konnte die Schiiten-Miliz keinen einzigen Sitz im Stadtrat erringen.
Al-Husseini hat in seinem Büro eine provisorische Apotheke eingerichtet. Auf dem Tisch liegen Penicillin-Schachteln, Verbände, Schmerzmittel. Ohne Unterlass strömen Mitarbeiter hinein, wollen wissen, wo sie Flüchtlinge unterbringen können, wann Autos nach Beirut aufbrechen. Plötzlich klingelt sein Handy. Jemand aus Beirut bietet amerikanische Hilfe an. "Wir wollen keine Pillen von den Amerikanern", schreit er ins Telefon. "Wir wollen, dass sie den Israelis keine Bomben mehr schicken".
Immer die gleichen Geschichten
In der Ecke stehen Kartons mit Touristenbroschüren. Eigentlich sollte jetzt ein vierwöchiges Theater- und Musikfestival beginnen, sollten Touristen aus Europa Kultur, Meer und Antike genießen. Nun sind die Strände leer, viele Häuser zerbombt. "Wir erwarteten die beste Saison seit Ende des Bürgerkries", sagt Al-Husseini, "nun stehen wir wieder vor dem Nichts."
Al-Husseini ist auch verantwortlich für 56 Gemeinden in den Bergen rund um Tyrus. Vor allem von dort strömen die Flüchtlinge in die Stadt. Etwa 20.000 sollen es sein. Sie kauern in den Kellern, kaum hundert Meter entfernt von Gebäuden, die Bomben wie Kartenhäuser haben zusammenfallen lassen. Wer mit ihnen spricht, hört immer die gleichen Geschichten. Von nächtlichen Angriffen, chaotischer Flucht, von verletzten, vermissten, toten Verwandten, von Hubschraubern, die gezielt auch die Flüchtlingskonvois beschossen haben. "Unser Auto wurde von einer Rakete getroffen", sagt etwa die 30-jährige Souad Sehman, die mit ihren beiden Kindern in einem Keller Zuflucht gefunden hat. "Zum Glück konnten wir vorher weglaufen."
Blutverschmierte Drähte
Erste Station der meisten ist das Najem-Krankenhaus am Rand der Stadt. Der Weg dorthin ist riskant. Krater markieren die Strecke, kaum zwanzig Meter vor dem Gebäude liegt ein verschmortes Auto. Jawad Najem ist Direktor der Klinik. Täglich bringen ihm die Rotkreuzwagen die Verletzten aus den Bergen. Über Hundert hat er schon behandelt. 21 konnte er nicht mehr retten. Najem zeigt eine kleine Papierschachtel. Darin scharfkantige Computerreste, Drähte, Metallschrott, manches noch blutverschmiert: "So etwas holen wir aus den Leuten nach den Granatenangriffen raus", sagt er.
Noch sind zumindest die Medikamente nicht knapp. Auch Betten hat er frei - die Leichtverletzten schickt er gleich weiter nach Beirut. Er selbst will nicht flüchten. "Wir bleiben hier bis zum Tod", sagt er, "oder um die Israelis zu empfangen."