Nahost-Tagebuch (2. Teil) Eine Reise in den Krieg

Layla al Zubaidi besucht in Amman einen Filmkurs, als der Krieg in ihrer Wahlheimat Beirut losbricht. Trotzdem macht sie sich auf den Weg in den Libanon. Für stern.de hat sie darüber Tagebuch geführt. Teil 2 von 3

Damaskus, Syrien, 16. Juli 2006
Endlich bekomme ich mein Visum von der syrischen Botschaft. Dort treffe ich einen Fotografen. Er war zwei Jahre im Irak und geht jetzt Richtung Libanon. Er erzählt mir, dass die Küstengrenze zwischen Syrien und dem Libanon immer noch offen ist, gestern 200 Journalisten ins Land gekommen sind. Er bietet mir an, ihn zu begleiten. Aber erst muss ich nach Damaskus, um meine Mutter zu sehen. Sie weint schon am Telefon. Sie ist aus Deutschland gekommen, um unsere Familie zu besuchen. Sie wollte auch ein paar Tage mit mir in Beirut verbringen. Ich hatte schon einiges geplant: Ein Auto mieten, durch die Landschaft fahren, am Strand faulenzen, Sehenswürdigkeiten und Konzerte besuchen. Ich fahre mit einem Auto nach Damaskus. An der Grenze belausche ich ein Gespräch zwischen zwei Männern. Einer von ihnen sagt, er gehe nach Beirut, um eine kranke Frau abzuholen. Ich lasse mir seine Telefonnummer geben und frage ihn nach dem Preis. Er möchte ihn nicht nennen, sagt nur "das hängt vom Tag ab und von dem was passiert." Wir bleiben im Haus meines Cousins und sehen die Nachrichten. Meine Mutter versucht, mich davon zu überzeugen mit ihr in unserem Haus in einem Dorf nördlich von Damaskus zu bleiben. Letztendlich gebe ich nach.

Damaskus, Syrien, 17. Juli 2006
Wir packen unsere Sachen, um in das Dorf zu fahren. Ich rufe ein Taxiunternehmen an, einfach aus Neugierde, ob momentan überhaupt Taxis fahren. Sie sagen mir, dass die Grenze zwischen Syrien und dem Libanon offen ist; die Fahrer würden nur andere Straßen nehmen. Meine Mutter sieht mich an und versteht sofort: "Hör zu, wenn du wirklich gehen möchtest, dann geh. Wie kann eine Mutter ihre Tochter in einen Krieg schicken? Aber ich will nicht, dass du hier bleibst und unglücklich bist." Wir nehmen ein Taxi zum Busbahnhof von Baramkeh und versuchen auf dem Weg, Geld abzuheben, bei derselben Bank, bei der ich in Beirut mein Konto habe. Sie geben mir kein Geld mit der Erklärung dies sei eine syrische Bank ohne jegliche Verbindungen zur libanesischen Filiale. Ich schreie die Bank an. Vermutlich zahlen sie kein Geld aus, weil sie Angst davor haben, dass alle Libanesen ihr Geld abheben werden. Ein Freund in Beirut erzählte mir später, dass die Geldautomaten in Beirut schon lange leer sind. Meine Nerven liegen blank und da kommen mir Verschwörungstheorien gerade recht.

Layla al Zubaidi

33, wurde in Heidelberg geboren, hat Ethnologie in Berlin studiert und arbeitet seit fünf Jahren für eine deutsche Institution der Entwicklungszusammenarbeit - zunächst in den palästinensischen Gebieten und derzeit im Libanon.

Der Taxifahrer ist geduldig, fährt mich zu verschiedenen Banken bis ich endlich etwas Geld abheben kann. In Baramkeh ruft er nur "Beirut" aus dem heruntergekurbelten Fenster, und schon kommen mehrere Fahrer und machen uns Angebote. Ein älterer Mann sagt, er würde nur mich mitnehmen für 100 US Dollar, das zehnfache des üblichen Preises. Er sagt sein Name sei Abu Milad, die Leute sagen, er habe einen guten Ruf. Ich möchte aussteigen um das Angebot anzunehmen, aber mein Fahrer schreit mich an, ich solle sitzen bleiben und ihm die Verhandlungen überlassen. Ich solle ihm vertrauen, er kenne die Männer und würde den besten Preis aushandeln. Er würde mich nicht mit irgendjemandem in einen Krieg schicken.

Auf einmal wird er sehr laut und aufgeregt. Aber ich denke gut, vielleicht hat er Recht. Das alles ist kein Witz und er hat sicher mehr Erfahrung als ich. Wir fahren hinter Abu Milad auf der Autobahn. Wir halten an und der Taxifahrer sagt, er würde jetzt sein Kennzeichen und seine Telefonnummer haben wollen. Sie verhandeln hinter dem geöffneten Kofferraum. Als ich nachschaue, ob sie meine Tasche in den Kofferraum packen, sehe ich, dass sie Geld austauschen. Nie zuvor habe ich mich so wertlos gefühlt. Natürlich hatte er Geld von Abu Milad verlangt, ansonsten hätte er ihm den Deal versaut. All dieses Gerede, dass er auf mich aufpassen würde, war schlicht Täuschung. Er hätte mich mit jedem mitgeschickt. Aber es ist mir inzwischen egal.

Abu Milad macht einen sympathischen Eindruck auf mich. Lass sie doch ihre kleinen Geschäfte machen. Er verspricht meiner Mutter, gut auf mich aufzupassen. Und das hat er auch. Später im Auto beklagt er sich, dass es immer Leute gebe, die Profit aus einem Krieg zu schlagen versuchten. Ich beschuldige ihn, dasselbe zu tun. Und dann schäme ich mich. Eigentlich setzt er sein Leben aufs Spiel, indem er jeden Tag mehrmals diese Strecke fährt. 100 US-Dollar sind dafür nicht zu teuer. Er versucht Geld zu sparen, für die Hochzeit seiner Tochter.

Abu Milad versucht die Spiegel wieder anzukleben

Sein Auto fällt beinahe auseinander, die Spiegel sind abgefallen. Abu Milad kauft Sekundenkleber, um sie wieder zu befestigen. Wegen der Hitze fallen sie jedoch immer wieder ab. Er fährt ohne Spiegel. Es macht keinen Unterschied, da ohnehin kaum Autos unterwegs sind, obwohl diese Tageszeit normalerweise die verkehrsreichste des Tages ist.

Nach einer Stunde erreichen wir die syrische Grenze. Unsere Fahrbahn ist leer, die gegenüberliegende ist geradezu verstopft mit Autos. Busse mit Leuten, die aussehen als kämen sie aus dem Südlibanon: Bauern in ihren traditionellen Gewändern, Kinder, die wie Hühner auf der Stange unter der gleißenden Sonne nebeneinander auf den Ladeflächen von Pick-Ups sitzen. Die Passkontrolle geht schnell. Nur der Schalter für Diplomaten ist geöffnet. Ich zeige meinen Pass. "Ein offizieller Pass?" Der Kontrolleur guckt mich ungläubig an. "Gehört der wirklich Ihnen?" Ich bin kurz davor zu sagen: "Nein, er gehört meiner Großmutter". Wie kann eine junge arabische Frau bloß einen offiziellen Pass besitzen? Er blättert weiter durch die leeren Seiten, mit einem angestrengten Ausdruck in seinem Gesicht.

"Syrien ist das Land der Korruption"

Wir überqueren die Grenze. Am letzten Kontrollpunkt streckt der Kontrolleur Geld in seine Tasche, das Abu Milad ihm sehr diskret gegeben hat. "Sie sollten ihnen Uniformen ohne Taschen geben", ist sein Kommentar. "Syrien ist das Land der Korruption." Naja, denke ich, kein Wunder bei den Gehältern. Ein Sarg wird auf einen Lkw geladen, eine Fernsehkamera folgt ihm. Ein armer syrischer Arbeiter, der die beste Zeit, seine besten Jahre gegeben hat, um ein zerstörtes Stadtzentrum wieder aufzubauen, eine Person, die in Sekunden zu einem Kollateralschaden wurde.

Das Prozedere an der libanesischen Grenze ist sogar noch schneller. Normalerweise muss ich für ein dreimonatiges Visum betteln. Dieses Mal stempelt der Offizielle ganz einfach eine Seite und fragt mit einem Lächeln "Alle fliehen und Sie kommen?" Ich sage ihm, dass ich einfach nur nach Hause will. Ich staune über mich selbst. Ich habe Beirut nie als mein Zuhause gesehen. Aber plötzlich will ich dorthin. Ich schätze es ist die banale Logik, dass man etwas erst zu schätzen weiß, wenn es angegriffen wird oder die Chance besteht, es zu verlieren. Plötzlich kann ich all diese Leute verstehen, die selbst in den gefährlichsten Situationen an ihrem Heim festhalten.

Warum wollen die Menschen ihre Häuser nicht verlassen

Wir denken immer es sei irrational: Warum gehen sie nicht, um ihr Leben zu retten? Doch die Angst davor, vielleicht nie wieder zurückkehren zu können erscheint sehr rational. Zu viele Leute haben diese schmerzhafte Erfahrung gemacht. Nun ja, für mich ist es leicht. Ich lebe in einer relativ sicheren Gegend. Ich brauche mir keine Sorgen um mein Haus, meine Familie oder mein Land. Ich genieße den Luxus, einen deutschen Pass zu besitzen, den eines reichen und mächtigen Landes und im schlimmsten Fall kann ich mich an meine Botschaft wenden. Es ist angenehm ein Erste-Klasse-Bürger dieser Welt zu sein.

Ich bekomme einen Telefonanruf aus Beirut: Eine Straße, die zur Grenze führt, wurde bombardiert. Abu Milad versichert mir, dass er ohnehin eine andere Route fahren wollte. Wir werden durch Zahlé statt durch Chtoura fahren, ein Weg durch die Berge, der vermutlich eine Stunde länger dauern wird. Wir fahren hinunter zum Bekaa-Tal. Dasselbe absurde Gefühl beschleicht wie damals, als ich das erste Mal nach Ramallah oder Bagdad ging: Wo ist der Krieg? Wir stellen uns den Krieg oft als ein ständiges Bombardement von Städten vor, schreiende, weinende, blutende, sterbende Leute, Schießereien und Granaten, Gebäude die zu schwarzem Rauch werden, Beton, der zu Trümmerbergen wird, die lauten Geräusche der Explosionen, Gewehre und Panzer und Kriegsschiffe und anderes Kriegsgerät - alles in einem kompletten Chaos.

Nicht, dass dies nicht der Fall wäre. Mit 50 Toten jeden Tag, den Ereignissen in Palästina und den libanesischen Städten Nabatiyeh, Tyre, Saida, Baalbeck und Beirut spielen sich jeden Tag schreckliche Szenen ab. Aber der Krieg versteckt sich auch im Normalen, dem Leisen, sogar im Romantischen und Schönen. Ramallah kann die perfekte Illusion eines malerischen Bergstädtchens erzeugen, Bagdad die einer großen, lebendigen, modernen Stadt.

Die kleinen Zeichen des Krieges

Manchmal ist es schwierig die kleinen Zeichen zu erkennen, die Zeichen des Krieges: Geschlossene Geschäfte an einem Montag, Straßensperrungen, wo es keine Baustelle gibt, stundenlange Staus, wo die Straße breit genug wäre, junge unrasierte Männer, die in Uniform auf Parkbänken oder dem Bürgersteig schlafen während ihre Baracken leer bleiben, Kinder, die in den Straßen vor Armani- und Versacegeschäften betteln, Leute, die eilig einkaufen, obwohl noch genug Zeit bliebe, weiße Autos mit blauen UN-Zeichen in den Straßen, obwohl die UN niemals eine Entscheidung gegen die Mächtigen treffen könnte.

Normalerweise wird die Straße zum Bekaa-Tal von Läden gesäumt: Kioske, Cafés, Mechaniker. Doch jetzt sind sie alle geschlossen. Keine Menschenseele ist auf der Straße. Italienische, deutsche, brasilianische und französische Flaggen wehen noch auf den Balkonen, Erinnerungen an die Fußballweltmeisterschaft, die die Libanesen mit einer Welle von Enthusiasmus verfolgt haben. An einer Stelle öffnet sich vor uns ein riesiges Loch. Dort, wo eigentlich die Straße sein sollte. Hier sind schon vor zwei, drei Tagen die Bomben eingeschlagen. Wir biegen rechts ab in die Richtung von Zahré. An einer Kreuzung scheint Abu Liad verwirrt.

"Fühle mich betrunken, ohne getrunken zu haben

Wir fahren ein paar Kilometer weit in ein Feld, bis er wieder umdreht. "Ich fühle mich betrunken, ohne Arak getrunken zu haben." Die ersten Zweifel steigen in meinen Kopf. Er fragt einen Bauern, der mit dem Arm die Richtung weist. "Biegen sie nicht rechts ab, denn die Brücke wurde bombardiert. Fahren sie nicht geradeaus, denn die Straße wurde bombardiert. Biegen sie also links ab." Wir verirren uns und fahren eine Stunde lang herum. Ich fühle mich nicht sehr wohl auf der Ebene inmitten von zerstörten Straßen und Brücken und ich frage mich, ob es wirklich eine so gute Idee war, nicht die Küstenstraße genommen zu haben, wie der Fotograf mir empfohlen hatte. Egal, zu spät. Auch andere Autos haben sich verfahren. Die Fahrer fragen entweder nach Beirut oder nach der Grenze.

Letztendlich kommen wir in Zahlé an, wo wir feststellen, dass wir einen platten Reifen haben. Wir brauchen eine weitere Stunde, um den Reifen zu wechseln. Abu Milad ist müde und schwitzt von der Arbeit. Ein alter Mann sollte keine solche Arbeit machen, den ganzen Tag herumfahren und seinen Rücken kaputt machen. Er sollte in einem gemütlichen Sessel sitzen und seine Rente genießen. Ich lade ihn zu einer kalten Cola im Café Hollywood ein. Shaggy singt "Hey Sexy Lady". Ein Soldat befragt uns, wohin wir gehen. Er rät uns, nicht die Küstenstraße zu nehmen. "Sie müssen sich zwischen Häusern bewegen. Das ist sicherer."

Die Aussicht ist atemberaubend

Wir fahren durch die Berge weiter nach Antoura. Wir passieren eine bombardierte Radarstation. Ich habe diese Straße noch nie befahren. Die Aussicht ist atemberaubend, grün wie das Paradies. Kleine weiße Steinhäuser mit bunten Blumen in den Gärten, alte Männer, die Karten oder Tawla spielen. Wo ist der Krieg? Er kommt aus den Radios und Fernsehern, die auf kleine Tische gestellt wurden, so dass sie ihn draußen hören und -sehen können, in der kühlen, frischen Luft. Wir halten an und bestellen Sandwiches. Abu Milad unterrichtet mich über die Tugenden der arabischen Familie. Die Köchin bittet mich, Gurken aus der Küche zu holen. Abu Milad rügt sie, wie im Himmels Willen kann sie einen Gast bitten, ihr Gemüse zu besorgen? Ihre Antwort ist, dass ich nicht ihr Gast, sondern ihre Tochter sei. "Es gibt in diesem Haus keine Fremden. Wir gehören alle zu einer Familie." Er nickt selbstzufrieden. "Sehen sie, das ist es, was ich ihnen soeben erklärt habe."

Ab hier wird die Strecke immer schöner. In jedem Dorf wird der Reisende mit einem freundlichen "Bienvenue" willkommen geheißen und mit einem "Merci pour votre visite" verabschiedet. Die Geschäfte sind geöffnet, die Leute bummeln in den Straßen, sitzen in Cafes, trinken Cappuccino. Kaum ein Zeichen von Krieg. Fast keine - nirgendwo sind Touristen zu sehen.

In diese Orte fliehen meist die reichen Leute vor der heißen Wüstensonne der Golfstaaten. Abu Milad singt für mich alle Lieder, an die er sich erinnern kann, die von einer Frau namens "Layla" berichten. Wir fahren an einem Dorf mit dem seltsamen Namen "Bologna" vorbei, später an Bkfaya, eine Festung der Phalangen. Abu Milad unterrichtet mich wiederum: wie die Phalangen die Libanesen gelehrt haben zu lieben, zivilisiert und demokratisch zu sein, für ihre Familien zu sorgen - "Gott, das Vaterland, die Familie" - die heilige Dreifaltigkeit.

Im Libanon sind immer die anderen Schuld

Kein Wort über die rechte Ideologie, ihre Rolle bei der Ermordung von palästinensischen Flüchtlingen. Er behauptet, es seien die Palästinenser, die den Krieg in den Libanon gebracht hätten. Im Libanon sind es immer die anderen, die für die traurige Geschichte des Landes verantwortlich sind. Er spricht weiter und sagt, er habe seine Kinder so erzogen, dass sie gute katholische Christen seien, er habe sie gelehrt nicht zu lügen oder zu morden. "Während des Krieges haben Moslems Christen getötet und Christen Moslems. Das darf nie wieder passieren."

Wir kommen in Antelias an der Nordküste Beiruts an. Dann plötzlich: vollkommen leere Straßen. Der Hafen zu unserer rechten wurde bombardiert. Den Rat des Soldaten ignorierend fahren wir an der Corniche entlang, der Küstenstraße Beiruts - wo wir normalerweise entlang flanieren, Eis essen oder einen letzten Tee trinken nach einer langen, durchtanzten Nacht im Baromètre, unserem Lieblingsclub. Was wir an der Corniche besonders lieben ist die Tatsache, dass sie einer wenigen Plätze Beiruts ist, der für alle Leute zugänglich ist - für die reichen und versnobten, für die armen, für die Mädchen mit Kopftuch und die mit Minirock, für Frauen mit Kinderwagen, für Jogger, Tai-Chi-Liebhaber, für Familien, die auf Plastikstühlen sitzen und Wasserpfeife rauchen, für syrische Arbeiter, für pubertierende Teenager, die in Autos HipHop hören, für junge Liebende und alte Paare, für Leute, die Kaffe und gerösteten Mais verkaufen, für Bettler und selbstmörderische Schwimmer. Wann auch immer man heruntergeht zur Corniche, gleich zu welcher Tages- oder Nachtzeit, es ist immer was los. Aber heute nicht.

Layla al Zubaidi