In Deutschland ist es nur in begründeten Ausnahmefällen möglich, beim Nachbarn Österreich gehört es zum Standard. Wer seine Kinder nicht in die Schule schicken möchte, darf diese zu Hause unterrichten. Im Schuljahr 2017/18 wurden in der gesamten Alpenrepublik 2222 Kinder entweder von ihren Eltern oder Privatlehrern in den eigenen vier Wänden unterrichtet – die meisten von ihnen im flächenmäßig größten Bundesland Niederösterreich und der Landeshauptstadt Wien.
Mit Beginn der Corona-Pandemie verzeichnet das österreichische Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung jedoch einen neuen Trend. Wie eine Sprecherin des Ministeriums auf Anfrage des stern bestätigte, steigt die Zahl der Schüler, die für den häuslichen Unterricht an- und damit vom klassischen Schulunterricht abgemeldet werden. Waren es 2019 noch 2300, so wurden im ersten Pandemiejahr bereits 2600 Kinder zu Hause unterrichtet. Der Vorsitzende des Verbands der Elternvereine an den höheren und mittleren Schulen Wiens, Markus Dekan, geht davon aus, dass sich die Zahl sogar verdreifachen könnte. Die Bildungsdirektion Wien rechnet zu Beginn des neuen Schuljahres im September mit bis zu 6000 Kindern, die in den Klassenräumen fehlen könnten.
Bildungsministerium sieht keinen Grund zur Sorge
In Österreich ist der häusliche Unterricht gesetzlich erlaubt und hat sogar in der Verfassung seinen festen Platz. Die Erziehungsberechtigten müssen ihre Kinder allerdings vor Beginn des Schuljahres dafür anmelden. Ein Wechsel vom Schul- in den Heimunterricht ist im laufenden Schuljahr nicht möglich, erklärte das Bildungsministerium auf Anfrage. Umgekehrt können Kinder aber von zuhause in das Klassenzimmer wechseln. Den Eltern müsse jedoch klar sein, worauf sie sich einlassen, betont das Bildungsministerium. Anders als beim Homeschooling gebe es keine Unterstützung von den Lehrkräften, keine Arbeitspakete und auch keinen Online-Unterricht. "Um darüber Aufklärung zu geben, setzen wir auf Beratungsgespräche für Eltern, die planen, ihre Kinder zum häuslichen Unterricht anzumelden." Um den Lernerfolg zu prüfen, muss jeder Schüler am Ende des Schuljahres die sogenannte Externistenprüfung ablegen.
Bereits jetzt meldet das Bildungsministerium 3400 Anmeldungen für den Heimunterricht, gibt jedoch gleichzeitig Entwarnung: "Die Zahlen steigen, aber nicht in allen Bundesländern. In Wien, Kärnten und im Burgenland gibt es kaum Bewegung bei den Zahlen." Quantitativ sei die Entwicklung jedoch kein Grund zur Sorge.
Lassen Corona-Leugner ihre Kinder öfter daheim?
Elternvertreter und Experten der Psychologie sehen das anders. "Wir haben Bedenken, dass die soziale Entwicklung eines Kindes bei ausschließlichem Unterricht zu Hause leidet", sagt der Vorsitzende des Wiener Elternverbandes, Dekan. Die lange Zeit des Distance Learnings habe gezeigt, dass Schulen nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung seien. Auch Ulrike Schiesser zeigt sich besorgt. Die Psychologin und Psychotherapeutin arbeitet bei der Bundesstelle für Sektenanfragen und sagt: "In letzter Zeit erreichten uns immer häufiger Anrufe von Personen, die schildern, dass Angehörige vor einer Gesundheitsgefährdung durch Masken und Coronatests warnen und ihre Kinder von der Schule abmelden." Offizielle Zahlen liegen dazu allerdings nicht vor, weil die Gründe bei der Anmeldung zum Heimunterricht an keiner Stelle erhoben werden.
Zu Beginn des neuen Schuljahres plant die österreichische Regierung die Corona-Maßnahmen an Schulen zu verschärfen. So sollen die Schüler in den ersten beiden Schulwochen mindestens dreimal getestet werden, selbst wenn diese geimpft sind. Für ungeimpfte Lehrer gilt die allgemeine Maskenpflicht auch im Klassenraum. Eltern aus dem Milieu der Corona-Leugner und Maskenverweigerer gehen diese Anordnungen offenbar zu weit. "Es gibt leider einige Fälle, bei denen die Eltern Verschwörungserzählungen glauben und die Gesellschaft als problematisch darstellen." Besorgniserregend sei die Abmeldung vom normalen Schulunterricht dann, wenn sich die Kinder dadurch nur noch in abgeschlossenen Parallelwelten bewegen. "Das sind oft Haushalte, in denen die Eltern der Regierung vorwerfen, Panik zu schüren, gleichzeitig aber selbst eine Welt inszenieren, die kurz vor der Apokalypse steht", erklärt Schiesser. Meist handele es sich dabei um eine Minderheit – "die aber besonders laut ist."
Schiesser sieht dort dringenden Informations- und Aufklärungsbedarf. "In der Regel geht es den Eltern um das Wohl der Kinder. Manchen muss man allerdings erst begreiflich machen, dass Bildung und vielfältige Sozialkontakte dazu beitragen." Zudem dürften nicht alle Erziehungsberechtigten, die ihre Kinder zu Hause unterrichten, in einen Topf geworfen werden. Manche Schüler müssten beispielsweise aufgrund einer chronischen Erkrankung zu Hause lernen.

Kritik am antiquierten System
Für manche bietet die Möglichkeit zum häuslichen Unterricht durchaus Vorteile – gleichzeitig wird das System seit Jahren kritisiert. "Der Hausunterricht ist selten mit dem richtigen Schulunterricht vergleichbar", sagt Schiesser. Das liegt nicht nur an der Vermittlungskompetenz der Eltern. Für die am Ende des Schuljahres durchgeführten Externistenprüfungen gibt es österreichweit keine einheitlichen Standards. Zudem können die Erziehungsberechtigten die Schule auswählen, an der ihre Kinder die Prüfung ablegen sollen. "Manche Schulen sind bekannt dafür, die Ergebnisse freundlicher zu bewerten."
Auch bedeute der Heimunterricht für viele Kinder einen sozialen Verlust. In der Schule lernen die Kinder mit unterschiedlichen Meinungen und Perspektiven außerhalb des familiären Umfeldes umzugehen, ist Schiesser überzeugt. Vielen gilt der Heimunterricht zudem als antiquiert. Historisch betrachtet stammt die Grundidee noch aus einer Zeit, in der der Adel seinen Nachwuchs privat zu Hause unterrichten ließ, um den Kontakt zur Unterschicht zu vermeiden.
Ob und was für Auswirkungen die steigende Zahl der privat unterrichteten Schüler für die Schulen hat, steht noch nicht fest. Zudem stehen endgültige Daten über die Anmeldungen zum häuslichen Unterricht noch aus. Da das Schuljahr erst im September beginnt, können konkrete Zahlen erst danach bekanntgegeben werden, heißt es aus dem Bildungsministerium.
Quellen: Bildungsdirektion Wien, Der Standard, Heute,