Sichere Geburten in Peru Die "Mütter der Flüsse" kämpfen um das Leben der Schwangeren – tief im Regenwald

  • von Rike Uhlenkamp
Peru
Maria Juana Yaicate, eine Mitarbeiterin der "Mamas del Rio", untersucht im Dorf Esparta in Peru eine schwangere Frau
© Rainer Kwiotek
Im Regenwald Perus, wo die nächste Klinik meist nur per Boot erreichbar ist, enden Geburten oft noch immer tödlich. Eine Frau will das nicht länger hinnehmen.

Beim dritten Kind sollte alles gut gehen, nachdem ihr erstes mit sieben Monaten tot zur Welt kam und auch ihre zweite Schwangerschaft mit einer Fehlgeburt endete. Jetzt sitzt Jhoana German auf der Terrasse ihrer Holzhütte in Nuevo Horizonte, einem Sieben-Hütten-Dorf im Norden Perus, und streicht dem schlafenden Baby in ihrem Schoss eine dunkle Locke aus der Stirn. Bunte Vögel rufen durcheinander, bellend jagen sich drei Hunde zum Ufer des Putumayo, dem Grenzfluss zu Kolumbien. Fünf Tage ist die Geburt ihres Sohnes her. Der Junge ist gesund, aber sie selbst überlebte nur knapp.

Eigentlich wollte ihn die 19-Jährige in der Klinik der nächsten Kleinstadt zur Welt bringen, doch ihre Wehen setzten zu früh ein. German musste zu Hause entbinden. Als sich ihre Plazenta nicht löste, drohte sie zu verbluten. "Gott sei Dank lag gerade ein Krankenschiff in der Nähe", sagt sie. "Dort half man mir." Peruanische und kolumbianische Bootkliniken befahren regelmäßig die mehr als 2000 Flusskilometer des Putumayos, leisten erste Hilfe und sorgen für Medikamente. 

Peru, das heißt: Fortschritt in den Städten – hohe Müttersterblichkeit auf dem Land

Dafür müssen Patienten sonst stunden- oder sogar tagelange Fahrten in ihren "Peke Peke" auf sich nehmen. Die Kanus mit knatternden Außenbordmotoren sind hier das wichtigste Verkehrsmittel. Wie auch im Rest Loretos, der größten, von Regenwald bedeckten und Flüssen durchzogenen Verwaltungsregion Perus. 

Zwar halbierten sich Mütter- und Säuglingssterblichkeitsraten im Land in den vergangenen zwei Jahrzehnten und liegen heute weit unter dem globalen Durchschnitt – allerdings gibt es große regionale Unterschiede. Am schlimmsten ist die Lage in den abgelegenen Regenwaldregionen. Schwangeren bleibt hier meist keine Wahl, als zu Hause zu entbinden – oft ohne Strom, sauberes Wasser und fachliche Begleitung. Komplikationen und Infektionen können dann für Mutter und Kind lebensgefährlich werden.

Magaly Blas wollte das nicht länger hinnehmen. Als die peruanische Epidemiologin vor vierzehn Jahren auf einer Forschungsreise durch den Regenwald mit der Not der Mütter konfrontiert wurde und gleichzeitig entdeckte, dass sie selbst schwanger war, "begriff ich einmal mehr, wie privilegiert ich bin", sagt sie heute. "Ich konnte für meine Untersuchungen sorglos in eine der modernen Kliniken von Lima gehen, diese Frauen nicht." 

Initiatorin Magaly Blas (r.) verfolgt ein Beratungsgespräch
Initiatorin Magaly Blas (r.) verfolgt ein Beratungsgespräch
© Rainer Kwiotek

Blas kehrte in den Urwald zurück, studierte Dorfstrukturen und Geburtspraktiken, interviewte Hebammen, Familien und Gemeindevertreter und bewarb sich um internationale Fördermittel. Mit Erfolg. "Kam ich auf meinen Reisen in den Dörfern an, warteten an den Ufern stets die Frauen. Mit ihren Kindern im Arm", erklärt die heute 46-jährige Blas. "An sie, ihre Schicksale, aber auch an ihre Stärke dachte ich, als ich nach einem Namen für mein Projekt suchte." 

Mit einer App zu den Müttern ins Dorf

Anfang 2019 ging es los: In mehr als 84 Gemeinden, über 350 Kilometer an drei großen Flüssen entlang, schulte ihre Organisation "Mamas del Rio" mehr als 100 Frauen und Männer zu Gesundheitshelfern. Sie führen bei werdenden Müttern Hausbesuche durch, planen mit ihnen die Entbindung und motivieren sie, sich im Notfall einer Klinik anzuvertrauen. Eine App auf Tablets führt die medizinischen Laien durch die Visiten. Videos klären Schwangere, die nicht lesen und schreiben können, über Risiken, Hygiene und Pflege bei Neugeborenen auf. "In den Videos werden Geschichten von Frauen aus der Region erzählt", erklärt Blas. "Solche, die ihre Nachbarinnen sein könnten."

Ein Großteil der rund eine Million Einwohner Loretos sind Indigene, die von Politik und Gesellschaft in der Vergangenheit immer wieder verfolgt und ausgebeutet oder schlicht vergessen wurden. Sie misstrauen dem Staat und seinen Institutionen, weil ihre Kulturen oft ignoriert werden: In Kliniken wird ihnen ihre Art der Geburt im Stehen, Hocken oder Knien verboten. Traditionelle Hebammen dürfen häufig nicht mit in den Kreißsaal. Dabei sind sie es, die in den Gemeinden die Geburten begleiten. 

"Ich habe das Amt von meiner Mutter übernommen und sie von ihrer", erklärt Maria Juana Yaicate, 38, die in ihrem Dorf Esparta auch die Gesundheitsmitarbeiterin des Projekts ist. Aus Pflanzen des Regenwalds braut sie wehenfördernde oder schmerzstillende Tees und dichtet Lieder, die sie zur Beruhigung vorsingt. "Ich schenke und rette Leben", sagt sie. 

"Wir respektieren kulturelle Praktiken", sagt Magaly Blas. "Nur wenn etwas schädlich für Mütter und Babys ist, erklären wir, wie es besser geht". Zum Beispiel, die Nabelschnur mit einem sterilen Instrument statt mit einer Schere oder einem Haushaltsmesser zu trennen und diese nicht zuvor mit Öl, Kräutern oder Asche zur Wundheilung zu behandeln. "Mamas de Rio" lieferte saubere Entbindungssets und klärt im ganzen Dorf über sichere Geburten auf, aber auch über Familienplanung. "Denn in den patriarchal geführten Gemeinden entscheiden oft die Männer, wo und wie viele Kinder eine Frau bekommt", erklärt Blas.

Inzwischen lassen sich immer mehr Schwangere beraten. Sie achten auf intensiven Haut-zu-Haut Kontakt mit ihren Babys und stillen sie mit der nährstoffreichen Erstmilch, statt sie wie zuvor ungenutzt aus der Brust zu pressen. Auch die Geburtenrate in den Gesundheitszentren stieg. "Das hat uns überrascht", sagt Blas. "Wir glaubten, es brauche viel mehr, um eine Veränderung herbeizuführen. Doch auf Empfehlungen aus ihren eigenen Reihen vertrauen die Menschen." 

Tablets helfen den Gesundheitsmitarbeiterinnen bei ihren Visiten in den abgelegenen Dörfern
Tablets helfen den Gesundheitsmitarbeiterinnen bei ihren Visiten in den abgelegenen Dörfern
© Rainer Kwiotek

Die meisten ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter führten ihre Arbeit auch nach dem offiziellen Ende des Programms im Jahr 2021 weiter. Sie sind heute wichtige Säulen der Gesundheitsversorgung in den Dörfern. Im vergangenen Jahr gründeten sie einen eigenen Verband: So wollen sie gegenüber der Regierung für ihre Rechte kämpfen. Am liebsten wären sie, wie ihre Kolleginnen und Kollegen im Nachbarland Brasilien, Teil des Gesundheitssystems und würden auch bezahlt. Bisher leisten sie ihre Arbeit ehrenamtlich. Gesundheitshelferin Yaicate geht es dabei vor allem um Anerkennung und Respekt. "Der Staat sollte unsere wichtige Rolle in der Gemeinde erkennen", sagt sie. "Und uns fördern: mit regelmäßigen Schulungen oder zumindest mit einer finanziellen Belohnung."

Auch Magaly Blas versucht, ihr Programm auf nachhaltige Beine zu stellen. Sie möchte die Regierung überzeugen, es zu übernehmen und auf weitere Regionen auszuweiten. "Obwohl wir gezeigt haben, wie gut es funktioniert, ist das sehr mühsam", sagt sie. Die politische Lage in Peru ist instabil: Allein in den vergangenen acht Jahren gab es sechs Regierungswechsel. "Bin ich mit einem Minister oder Behördenleiter einen Schritt weiter, ist er plötzlich nicht mehr im Amt", klagt sie.

Einen Hoffnungsschimmer gibt es: Seit Anfang 2021 sind Blas und ihr Team in 38 Gemeinden auf beiden Seiten des Putumayo-Flusses aktiv. Auch in Nuevo Horizonte. Die Finanzierung des Programms übernehmen die Außenministerien beider Länder. 

Angst vor der Behandlung

Im größten Klinikum der Provinz Putumayo, in der Kleinstadt El Estrecho, gibt es außerdem seit Anfang des Jahres eine Unterkunft für Schwangere und Mütter mit Kindern. "Manche kommen schon Wochen vor der Geburt, um zu verhindern, dass sie es nicht rechtzeitig zu uns schaffen", berichtet Maryel Isuiza, leitende Krankenschwester der Säuglingsstation. 

"Du musst etwas Geduld haben", sagt sie zu einer Patientin und reicht ihr die Hand. Es ist Jhoana German. Ihr Gesicht ist fahl, sie liegt auf einer Liege, starrt an die Decke. Über einen Tropf wird ihr Eisen zugeführt. Wegen der starken Blutungen während der Geburt waren ihre Hämoglobinwerte gefährlich gesunken. 

"Sie wusste, dass sie in den ersten Wochen nach der Geburt regelmäßig zu uns kommen muss", erklärt Isuiza. "Doch sie hat Angst vor der Behandlung und ließ die Termine ausfallen". Obwohl die Krankenschwester an diesem Sonntag frei hat, holte sie German am Morgen mit einem Schnellboot in ihrem Zuhause ab und bleibt nun im Klinikum bei ihrer Patientin. "Sie hier zu haben, beruhigt mich", sagt Isuiza. "Jhoanna hätte sterben können." 

Dieses Projekt wurde vom European Journalism Centre im Rahmen des Solutions Journalism Accelerator finanziert. Dieses Programm wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt.