Der Mörder seiner Tochter war irgendwann einfach verschwunden. Angeblich war er verschwunden, muss es genauer heißen, denn Wladislaw Kanjus, verurteilt zu 17 Jahren Haft wegen Mordes an der 23-jährigen Wera Pechtelewa, war nicht etwa aus dem Straflager ausgebrochen. Die Behörden taten einfach so, als wüssten sie nicht, wo der Gefangene geblieben war. Als hätte das System ihn einfach verschluckt.
Jewgenij Pechtelew, Weras Vater, hatte damals an alle möglichen Instanzen geschrieben: an die Gefängnisbehörden, an Ermittlungskomitees, sogar an Wladimir Putin persönlich. Nichts. Der Gefangene erschien nicht einmal zur letzten Berufungsverhandlung. Eigentlich hätte man ihn aus seiner Strafkolonie per Video zuschalten müssen. Stattdessen präsentierten die Behörden einen Zettel: "Ich bitte, ohne mich zu verhandeln", stand da, sauber von Hand geschrieben. Wo der Häftling diese Zeilen verfasst hatte, wusste auch der Richter nicht. Zu diesem Zeitpunkt war Kanjus längst freigesprochen.
Im vergangenen November dann bekam Pechtelew, der Vater des Opfers, einen Brief von der Staatsanwaltschaft: "Nach einem Dekret des Präsidenten der Russischen Föderation wurde W. R. Kanjus am 28. April 2023 begnadigt." Von 17 Jahren Haft hatte er nur drei verbüßt.
Pechtelew ist bis heute fassungslos: "Wie soll ich damit leben, dass der Mörder meiner Tochter freigelassen wurde!", ruft er aus. "Er ist frei, und mein Kind liegt unter der Erde!" Ein verurteilter Mörder, begnadigt von Putin, weil er in den Krieg gezogen war – Pechtelew hätte nie gedacht, dass so etwas in seinem Land möglich ist.

Kampf der Gerechtigkeit
Jewgenij Pechtelew sitzt im Esszimmer seines Hauses in der sibirischen Kleinstadt Kiseljowsk, vor ihm liegen Akten aus dem Prozess. Pechtelew hat das Haus selbst bauen lassen. Früher arbeitete er als Bergmann, Kiseljowsk gehört zu den wichtigsten Kohlestädten des Landes. Heute handeln er und sein Bruder mit Autos und Ersatzteilen. Der Kampf um Gerechtigkeit hat sie Tausende Euros gekostet, seit Jahren zahlen sie für die Anwälte, gehen an die Öffentlichkeit, und das ist auch ein Grund, warum der Mord an Wera in Russland mittlerweile bekannt ist. "Wir geben nicht auf", sagt Pechtelew.
Anfangs sei daran natürlich nicht zu denken gewesen in all der Trauer, erzählt er. Nach dem Mord an Wera konnte Pechtelew kaum arbeiten, er lag auf dem Sofa und dachte, dass es nicht schlimm wäre, wenn der Tod ihn einfach erlöste. Dem Schmerz konnte er nirgends entfliehen. "Ich wachte auf", sagt er, "und die Tränen liefen automatisch." Seine Ex-Frau Oksana, Weras Mutter, konnte sich eine Zeit lang kaum auf den Beinen halten. Der Schmerz ist auch jetzt noch da, aber irgendwann kam die Wut dazu. Und die Wut verlässt die Familie nicht mehr.