20.000 Menschen gingen am Samstag in Bern auf die Straße. Sie demonstrierten für Frieden in der Ukraine. Einige brachten auch ihren Unmut mit der Schweizer Regierung zum Ausdruck. Der Bundesrat hatte zunächst darauf verzichtet, Sanktionen zu verhängen, und wollte lediglich sicherstellen, dass die von der EU verhängten nicht über die Schweiz umgangen würden. Verwiesen wurde dabei auf die Neutralität der Schweiz. Man müsse sich zurückhalten, um vielleicht irgendwann vermitteln zu können, so die Argumentation. Es mischten auch Bedenken mit, ein Vorhaben der EU einfach so zu übernehmen. "Die Schweiz weigert sich, die Sanktionen gegen Russland mitzutragen. Das ist skandalös und vor allem dumm", kommentierte Matthias Daum, Büroleiter im Ressort Schweiz-Seiten der "Zeit", die Haltung des Bundesrats.
Mit jedem Tag, die der Krieg in der Ukraine weiter fortschritt, wurde die Kritik aus Bevölkerung, Medien und Politik lauter. Alle Parteien bis auf die rechtskonservative SVP sprachen sich schließlich für Sanktionen aus. Auch im Ausland stieß die Haltung der Schweiz zunehmend auf Unverständnis. Der Druck auf die Regierung erhöhte sich. Und er wurde letztlich so groß, dass der Bundesrat umschwenkte.
"Einem Aggressor in die Hände zu spielen, ist nicht neutral", sagte Bundespräsident Ignazio Cassis bei einer Pressekonferenz in Bern am Montag. Dialog könne erst einsetzen, wenn die Spirale der Gewalt gebrochen und einem echten Willen für Friedensgespräche gewichen sei. Die Schweiz übernahm nun doch die EU-Sanktionen gegen Russland. Zudem verhängte das Land Einreisesperren für Menschen, die dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nahe stehen. Namen nannte die Regierung nicht, aber es dürfte für so manchen Oligarchen ungemütlich werden, der das schöne Land mit den tiefen Steuern bislang schätzte. Auch wirtschaftlich hat die Schweiz enge Verbindungen zur russischen Wirtschaft. 80 Prozent des russischen Rohstoffhandels werden in der Schweiz abgewickelt. Der Betreiber der umstrittenen Pipeline Nord Stream 2 hat seinen Sitz im Kanton Zug. Sämtlichen Angestellten wurde inzwischen gekündigt.
Eine Zeitenwende in der Schweiz
Bei der Pressekonferenz am Montag war von einer "Zeitenwende" die Rede. Ein Wort, das auch in der politischen Diskussion in Deutschland und der EU in diesen Tagen häufig fällt. Ein Blick in die Schweizer Medienlandschaft zeigt: Die Entscheidung der Regierung wird überwiegend positiv und mit einer gewissen Erleichterung aufgenommen. Allerdings auch mit einem Beigeschmack.
"Mit ihrem bisherigen Kurs wäre die Schweiz im Westen innert kürzester Zeit isoliert gewesen", kommentiert die "NZZ". Die Schweiz habe in den letzten Monaten zu Recht versucht, sich als Brückenbauerin zu betätigen. Die Berner Diplomatie solle ihre Guten Dienste weiterhin beiden Parteien anbieten, falls es eine Anfrage gebe. Doch gegenwärtig sei für die Schweiz keine realistische Vermittlerrolle in Sicht. "Neutralität ist nicht mit Feigheit gleichzusetzen. Sie ist kein Selbstzweck, sondern ein Instrument, um die Schweiz möglichst schadlos durch die Weltgeschichte zu steuern. Wer die Neutralität überhöht und verabsolutiert, schadet dieser am meisten."
Die "NZZ" weist in diesem Kontext wie auch andere Meiden auf den Unterschied zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik hin. Während die Neutralitätspolitik einer Interpretation bedarf und auslegbar ist, setzt das Neutralitätsrecht der Schweiz klare Grenzen: Das Land liefert selber keine Waffen in Kriegsgebiete, es interveniert nicht militärisch. Das moderne Neutralitätskonzept der Schweiz ist über 200 Jahre alt und geht auf den Wiener Kongress zurück. Als die Siegermächte 1815 der Schweiz dauernde Neutralität gewährten, war die Abmachung: Die Schweiz beteiligt sich nicht an Konflikten und stellt keine Söldner zur Verfügung, im Gegenzug werden auf ihrem Gebiet keine Kriege mehr ausgetragen.
Als Waffenexporteurin ist die Schweiz im Übrigen erfolgreich: Das Land hat im Jahr 2020 Kriegsmaterial im Wert von umgerechnet rund 880 Millionen Euro exportiert. Die beiden größten Abnehmer von Waffen waren in diesem Rekordjahr Dänemark und Deutschland.
Auch die "New York Times" berichtet über die Schweiz
Die Regionalzeitung "St. Galler Tagblatt" schreibt von einer "historischen Wende" in der Neutralitätspolitik. "Der russische Angriff auf die Ukraine ist brutal. Sich in einer solchen Situation neutral zu stellen – und damit die Geschäfte mit Moskau weiterlaufen zu lassen – wäre einer faktischen Unterstützung Putins gleichgekommen. Das können und wollen wir uns nicht leisten", heißt es in einem Kommentar. Die Schweiz habe die Kurve unter massivem Druck gekriegt und eine historische Neuinterpretation ihrer Neutralität beschlossen.
Ganz ähnlich argumentiert das Onlineportal "Watson": Es wäre "fatal" für die Glaubwürdigkeit der Schweiz, wenn sie sich aus Sicht der Ukraine und der westlichen Staaten dem Verdacht aussetzen würde, eine "Kollaborateurin" Moskaus zu sein, der die Gschäftlimacherei wichtiger sei als die Moral.
Die Zeitenwende in der Schweizer Politik war auch der "New York Times" eine Schlagzeile wert: "Switzerland says it will freeze Russian assets, setting aside a tradition of neutrality".
Kritik am Zögern des Bundesrats
Ein Kommentar im "Tagesanzeiger" trägt den Titel: "Ein richtiger Entscheid – aber ein schlechtes Zeichen". Der Entscheid hinterlasse einen "schalen Nachgeschmack". Dem Bundesrat wird mangelnder Fokus, eine Fehleinschätzung und zögerliches Handeln vorgeworfen. Auch die "NZZ" schreibt mit Blick auf die Regierung: "Nach dieser Krise braucht es eine Aufarbeitung, ob die ungenügende Vorbereitung zufällig war oder auf strukturelle Mängel zurückzuführen ist."
Angriffe, Flüchtende, Gas-Lieferungen: Grafiken zum Konflikt in der Ukraine

In einer Analyse des öffentlich-rechtlichen SRF klingt hingegen Skepsis gegenüber dem Entscheid an. "Wieso man bei dieser Ausgangslage nicht auf eine Doppelstrategie gesetzt hat – mit scharfen internationalen Sanktionen und gleichzeitigen Verhandlungsbemühungen der neutralen Schweiz, die aufgrund ihres Schutzmachtmandats für Russland in Georgien über einen besonderen Zugang zum Kreml verfügt – vermögen nur die Schaltzentralen in Washington und Brüssel zu beantworten."
Die internationale Staatengemeinschaft setze alles auf eine Karte. "Die Schweiz vermag nicht mehr abseits zu stehen, ohne ihrerseits unter massiven Druck zu geraten. Jetzt kann die Weltöffentlichkeit nur noch hoffen, dass das gut kommt."
Quellen: "NZZ", SRF, "Tagesanzeiger", "New York Times", "Watson", "St. Galler Tagblatt", swissinfo, "Die Zeit", Twitter, mit Material der dpa