In den vergangenen zwei Wochen waren die israelischen Zeitungen voll mit geophysikalischen Phänomenen: Von Erdbeben und Wirbelstürmen war die Rede, von einem Urknall. Und mancher glaubte sogar an ein Wunder. Der Auslöser allerdings ist sehr diesseitig: ein Bart. Dicht und schwarz ist er, seit Jahren Spottobjekt von Karikaturisten, Journalisten und Kritikern – und seit zwei Wochen ist sein Träger neuer Vorsitzender der mitregierenden Arbeitspartei: Amir Peretz, 53 Jahre alt, Sohn marokkanischer Einwanderer, früher Bürgermeister der Wüstenstadt Sderot, Mitglied der Friedensbewegung und Gewerkschaftsführer. Mit 42 Prozent der Stimmen lag Amir Peretz, der Außenseiter, bei der parteiinternen Wahl knapp vor Schimon Peres, dem Friedensnobelpreisträger.
Gerüchte über Neuwahlen machten seither die Runde. Am Sonntagabend verwandelte Peretz den Stein, den seine Wahl ins Rollen gebracht hatte, in eine Lawine: Die Arbeitspartei folgte seinem Entschluss und scherte aus der Koalitionsregierung aus. Damit ist die von Scharon geführte große Koalition aus Likud und Arbeitspartei am Wochenende endgültig zerbrochen.
"Scharon hat eine Bombe platzen lassen"
Am Montagvormittag feuerte Premierminister Ariel Scharon dann zurück und zog alle Aufmerksamkeit auf sich: Er werde aus dem Likud austreten und eine neue Partei der "Nationalen Verantwortung" gründen. Es ist das erste Mal in der Geschichte des Landes, dass ein regierender Ministerpräsident aus seiner eigenen Partei austritt. "Ariel Scharon hat eine Bombe platzen lassen", kommentierte der israelische Armee-Rundfunk diesen Schritt.
Präsident Moshe Katzav kündigte daraufhin an, seine Entscheidung zugunsten einer Parlamentsauflösung zügig zu fällen. Innerhalb von 90 Tagen müssen dann Neuwahlen stattfinden. Wahrscheinlichster Termin ist momentan der 28. März. Innerhalb von zwölf Jahren wählen die Israelis damit nun zum fünften Mal, keine israelische Regierung der letzten zwei Jahrzehnte hat eine ganze Amtszeit durchgehalten. Diesmal heißen die Gegner: Amir Peretz und Ariel Scharon.
Worum geht es den beiden? Zunächst Scharon: Seine Partei ist seit dem von ihm initiierten Rückzug aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland tief gespalten. Eine Gruppe von Rebellen um den innerparteilichen Konkurrenten und erfolglosen Ex-Premierminister Benjamin Netanyahu boykottierte Scharon und votierte bei Parlamentsabstimmungen zuletzt offen gegen ihn. Die Vertreter dieser Gruppe halten fest an den 1967 eroberten Gebieten und weigern sich Siedlungen aufzugeben.
Politik des "Disengagements"
Scharon dagegen will seine Politik des "Disengagement" fortsetzen. Der Begriff meint soviel wie Abzug oder Rückzug – drückt aber gleichzeitig noch viel mehr aus: Denn es geht es nicht um einen Friedensprozess, sondern um eine einseitige Abnabelung. Das "Disengagement" ist kein erster Schritt zum Frieden, wie viele zunächst dachten. Es ist sein Ersatz. Israel zieht sich zurück, verringert seine Angriffsfläche, reduziert Kosten und Tote. "Scharon hat keinen Friedensplan. Er ersetzt lediglich die bisherige militärische Besatzung durch eine kostengünstige, weniger aufwendige Form der Besatzung", sagt der israelische Politikwissenschaftler Yoav Peled, der als Professor an der Universität von Tel Aviv lehrt. Die Strategie sei einfach: Große Siedlungsblöcke östlich des Sicherheitszauns würden von den palästinensischen Gebieten abgetrennt und Israel einverleibt, einzelne Siedlungen geräumt. "Mit dieser Strategie spricht Scharon der israelischen Mittelklasse aus dem Herzen, die nicht mehr daran glaubt, dass ein echter Frieden möglich ist."
Nun schüttelt der Premierminister mit der Gründung einer eigenen Partei seine internen Widersacher ab und schart Unterstützer um sich. Gleichzeitig lässt der Regierungschef damit auch die Verantwortlichkeit für den rigiden Sparkurs und die sozialen Einschnitte beim Likud zurück – und kann unbefangen den Neuanfang wagen. Die Chancen für ein Gelingen stehen nicht schlecht: Immerhin 14 von 40 Abgeordneten des Likud wollen Scharon in die neue Partei folgen, darunter fünf Kabinettsmitglieder. Angesehene Persönlichkeiten wie der frühere Chef des Geheimdienstes Shin Bet sowie der Präsident der Ben-Gurion-Universität werden ebenfalls als Unterstützer genannt.
"Eine neue Partei der Mitte
Der Politikwissenschaftler Yoav Peled hält eine Koalition aus der Scharon-Partei und der Arbeitspartei für wahrscheinlich – unter der Führung des jetzigen Premiers. "Die neue Partei wird eine Partei der Mitte. Für viele bisherige Wähler der Linken wird Scharon damit wählbar." Die Umfragen bestätigen das: Fast die Hälfte aller Befragten sprach sich vergangene Woche für die Gründung einer neuen Partei unter Ariel Scharon aus – weil er nur im Alleingang weitere Siedlungsräumungen fortsetzen kann. Die neue Scharon-Partei könnte demnach alleine aus dem Stand 28 Parlamentssitze erringen. "Man muss sich um Scharon keine Sorgen machen. Mit der neuen Partei hat er die Freiheit, zu tun und zu lassen, was er will", analysiert Yoav Peled. "Scharon ist ein alter Fuchs, er tut nichts unüberlegt."
Und Scharon weiß: Noch ist er der beliebteste Politiker Israels, aber bald könnte ihn der Sozialdemokrat Amir Peretz im Rennen um die Wählergunst einholen. Denn die meisten Wähler, auch das zeigen die Umfragen, bewegen soziale Fragen. 25 Prozent aller Israelis leben unterhalb der Armutsgrenze und sogar ein Drittel aller Kinder. Die Armutsrate bei über 65-Jährigen ist die höchste in der westlichen Welt. Die israelische Wirtschaft hat unter der Intifada gelitten, die Arbeitslosigkeit ist gestiegen. Der Schutz der Siedlungen und die Subventionierung ihrer Bewohner verschlingt viel Geld, das die Regierung vor allem im sozialen Bereich einspart. Das frustriert die meisten Israelis.
Peretz ist unangepasst, uneuropäisch und individualistisch
Was also will Amir Peretz? Vor allem will er das in den letzten Jahren verschwommene Linksprofil der Partei schärfen und Scharons Kurs nicht länger mittragen. Vor 2000 Parteianhängern wiederholte er am Sonntag nochmals seine Ziele: Er sei gegen eine einseitige Abschottung von den palästinensischen Gebieten. Er stehe für ein vereinigtes Jerusalem von Israelis und Palästinensern. Und er verspricht: "Mit mir wird es kein einziges hungriges Kind geben." Der Sozialdemokrat ist entgegen alle Einflüsterungen seiner Linie über 20 Jahre lang treu geblieben – der oft belächelte Bart ist das Symbol seiner Politik: unangepasst, uneuropäisch, individualistisch.
Spekuliert wird jetzt, welche Rolle die Person Amir Peretz im Wahlkampf spielen wird: Werden die europäischen Eliten einen orientalischen Juden zum Premierminister wählen? Das hat es bisher in Israel noch nicht gegeben. Werden die russischen Immigranten Vertrauen in einen Linken haben? Niemand kann ohne die Zustimmung der über eine Million Russen Premierminister werden. Und werden die Linken jene Partei wählen, die ihre Ideale in den letzten fünf Jahren für eine Regierungsbeteiligung verkauft hat?
Zersplittertes Parteiensystem
"Das israelische Parteiensystem ist fragmentierter als anderswo, vor allem, weil es hier mehr religiöse, ethnische, politische und soziale Konfliktlinien gibt", erklärt Yoav Peled. Das zeigt sich in den vielen Parteien neben Arbeitspartei und Likud: die nationalreligiöse Shas-Partei, die antireligiöse Zentrumspartei Shinui, die linke Yahad-Partei sowie Kleinstparteien wie die ultraorthodoxe Vereinigte Thoraliste. Sie alle gehen wechselnde Koalitionen miteinander ein, die bei Meinungsverschiedenheiten jederzeit wieder auseinander brechen.
Amir Peretz’ Kandidatur kann einen Aufbruch bedeuten. Zwar glaubt selbst die Mehrheit der linken Wähler noch nicht an seinen Wahlsieg. Doch seine Popularität steigt. Und in Israel, dem Land der plötzlichen Umschwünge und Wenden, ist alles möglich. Schließlich galt die Arbeitspartei bis vor zwei Wochen lediglich als unnötiger Wurmfortsatz des Likud. Jetzt könnte sie wieder zu einer neuen, wichtigen Kraft werden. Rückt damit auch Scharon weiter nach links? "Ich bin bereit, schmerzhafte Konzessionen für den Frieden einzugehen", gestand er immerhin am Montagabend im israelischen Fernsehen ein.
Noch ist alles offen und vieles deutet darauf hin, dass es ein spannender Wahlkampf wird. Genau zehn Jahre nach der Ermoderung von Yitzhak Rabin und ein Jahr nach dem Tod von Yasser Arafat kommt damit Bewegung in die israelische Politik. Erstmals steht wieder ein wirklicher politischer Richtungskampf an: Taube gegen Falke. Links gegen Rechts. Mizrachi gegen Ashkenasi. Mit Peretz kommt in die Opposition wieder Leben, mit einem Scharon ohne den Likud-Klotz am Bein werden vielleicht ganz andere Koalitionen möglich. Israel hat wieder eine Wahl.