Autobahn Zürich-Basel, Ausfahrt Effingen im Aargau: Straße und Bahn sorgen für eine der höchsten Verkehrsdichten in der Schweiz. Im Dorfkern von Effingen jedoch ist es ruhig, ein Hügel verschluckt den Lärm. 600 Einwohner zählt der Ort, Kühe grasen auf saftigen Wiesen, das Zentrum bilden ein paar aus der Zeit gefallene Bauernhäuser. Auf der Webseite preist sich Effingen als "Toscana des Kantons Aargau" an.
Vor einem großen Landhaus hängt an zwei Straßenlaternen ein Werbeblatt, farbig in A4 wie frisch aus dem Tintenstrahldrucker. "9 statt 12 Millionen-Schweiz" steht darauf. Das Haus, ein über 200 Jahre altes Schulhaus mit Holzscheune, ist das Machtzentrum von Ecopop, einem Verein von knapp 2000 Mitgliedern, der zurzeit das politische System der Schweiz ins Wanken bringt.
Ortstermin in der Ecopop-Zentrale
Andreas Thommen steht vor dem Ecopop-Haus und sagt: "Ich finde ja gut, dass es Leute gibt, die gerne in der Stadt wohnen. Aber der Druck aufs Land steigt eben auch." Thommen ist 47 Jahre alt, Sekretär und Vorstandsmitglied von Ecopop. Das Ecopop-Haus ist auch sein Haus. Hier laufen die Fäden zusammen.
Thommen und seine Vereinskollegen wollen mit der Initiative "Stopp der Überbevölkerung" die Zuwanderung auf jährlich 0,2 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung beschränken. Außerdem sollen mindestens zehn Prozent der Schweizer Entwicklungshilfsgelder in die "freiwillige Familienplanung" im Ausland fließen. Sprich: Die Grenzen dicht machen und im Ausland Verhütung predigen. Am kommenden Sonntag entscheiden die Schweizer in einer Volksabstimmung über die Vorlage.
Angeblich wollen die Initiatoren damit die Natur schützen, vor der Zubetonierung, vor dem Verkehrskollaps, vor dem Dichtestress. Dichtestress steht für den Sorgeneintopf, der in den Schweizer Köpfen brodelt: die verstopften Züge, die Platznot in den Städten, der drohende Kollaps der Autobahnen.
Das Erbe des Schweizer Bauernverbandes
Thommen verkörpert zwei Eigenschaften, die man für unvereinbar halten würde: das Ländlich-Konservative und das Alternativ-Ökologische. Er denkt als Ammann und damit höchster Effinger vor allem für seine 600 Leute. Er regt sich auf, dass Dorfladen, Bank und Post wegen der Konkurrenten Aldi und Lidl schließen mussten. Und er nervt sich an den von Bikern weggeworfenen Red-Bull-Dosen im Wald, wenn er mit seinem Hund spazieren geht. Thommen ist aber auch ein Grüner, so steht es in seinem Parteibuch. Sein Haus teilt er nicht nur mit Frau und Kindern, sondern auch als WG mit zwei Untermietern. Im Garten leben Hühner, auf das Dach der angebauten Scheune hat er eine Solaranlage montiert.
"Das wäre schon was, wenn hier noch einmal Geschichte geschrieben wird", sagt Thommen. Denn in seinem Haus wohnte Anfang des 20. Jahrhunderts einer der einflussreichsten Männer der Schweiz: Professor Ernst Laur. Über vier Jahrzehnte war er Direktor des Schweizer Bauernverbandes und legte den Nährboden für die Entstehung der rechtskonservativen Schweizerische Volkspartei (SVP). Kritiker warfen ihm eine Blut-und-Boden-Ideologie und Antisemitismus vor. Genau 50 Jahre nach seinem Tod versucht nun Thommen in seine Fußstapfen zu treten.
Angst vor der Überbevölkerung
Die konservativ-bäuerliche Denkweise ist eine Tradition von Ecopop. Die Angst vor der Überbevölkerung ist die andere. Gegründet wurde der Verein vor 40 Jahren - zu einer Zeit, als der Club of Rome vor den Grenzen des Wachstums warnte.
Ecopop war lange nicht mehr als ein obskures Grüppchen radikaler Grüner, für die sich kaum jemand interessierte. Nun bekämpft die versammelte Schweizer Machtelite die Initianten mit allen Mitteln: Gegner bezeichnen sie als "Öko-Faschisten" und "Birkenstock-Rassisten". Der Wirtschaftsverband gibt Millionen für eine Nein-Kampagne aus. Auch die Grüne Parteispitze distanziert sich.
"Die unheimlichen Ökologen"
Balthasar Glättli, der Chef der Grünen Fraktion im Parlament, hat sogar ein Buch gegen die Vorlage mit dem Titel "Die unheimlichen Ökologen" geschrieben. Für ihn liegt die Lösung für das mit acht Millionen dicht bevölkerte Land in geschickter Raumplanung. "Theoretisch könnte man die ganze Schweiz im Kanton Zürich unterbringen", sagt er.
Umfragen sagen für die Abstimmung vom Sonntag ein knappes Nein voraus. Doch die Schweizer nahmen im Februar bereits die "Initiative gegen Masseneinwanderung" der rechtspopulistischen SVP an. Sollten sie nun erneut mit Ja stimmen, hat die boomende Schweizer Wirtschaft ein Problem. Jährlich 80.000 Immigranten kommen jedes Jahr, viele von ihnen hoch qualifizierte Fachkräfte. Würde die Vorlage angenommen, dürften jährlich nicht mehr als rund 16.000 Personen immigrieren. Es wären die Grenzen des Wachstums, endgültig.