Die Russen scheinen Wladimir Putin auf Knien um eine dritte Amtszeit zu bitten. Seine Popularitätswerte liegen bei über 70 Prozent. Eine Initiative "Für Putin", die von Gruppen aus 80 Regionen unterstützt wird, hätte ihn am liebsten als geistigen Übervater. Sogar Oskar-Preisträger Nikita Michalkow schrieb im "Namen aller Kulturschaffenden" einen Bittbrief, dass Putin im Frühjahr nicht abtreten soll.
Ein grandioses Theater. Putin wird auf einer Welle der Begeisterung aus dem Amt getragen. Diesen Plan verfolgt er seit einem Jahr.
Um dann auf irgendeine Art wieder an die Macht zu kommen. Als Premierminister zum Beispiel.
Ausgeschlossen. Er kommt nicht zurück. Er geht endgültig.
Warum tritt er dann als Spitzenkandidat für die Kreml-Partei "Einiges Russland" bei den Duma-Wahlen an?
Weil er seine Zukunft sichern muss. Russische Machthaber sind nach ihrem Ausscheiden stets in großer Gefahr. Wenn er sang- und klanglos verschwinden würde, wäre sein Mythos spätestens nach drei Monaten dahin. In einem Jahr würde ihn sein Nachfolger für alle Fehlentwicklungen des Landes verantwortlich machen. So erging es Jelzin, so erging es Gorbatschow. Putin wird einen Posten annehmen, bei dem er keine Verantwortung tragen muss, der es aber schwer macht, ihn anzugreifen. Möglicherweise Fraktions-Chef oder Vorsitzender des Obersten Rates der Partei.
Mit dieser Theorie stehen Sie ziemlich alleine da. Alle rechnen damit, dass Putin irgendwie in die Trickkiste greift.
Warum sollte er sich auf so etwas Gewagtes einlassen? Wenn er nur an der Macht hätte bleiben wollen, wäre es einfach gewesen, die Verfassung zu ändern, um ein drittes Mal kandidieren zu können. Auch der Westen hätte das hingenommen, schließlich hat Putin alle darin überzeugt, dass er ein wichtiger Garant für Sicherheit und Stabilität ist.
Angenommen Sie haben Recht, warum will Putin nicht an der Macht bleiben?
Er ist auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Schon im nächsten Jahr könnte es damit vorbei sein. Denn Russland steht vor einer schweren Krise. Dafür gibt es eine Reihe von Faktoren. Etwa die enormen Preissteigerungen bei Lebensmitteln. Das mag aus deutscher Sicht nicht dramatisch klingen, weil die Haushalte dort im Durchschnitt nur 15 bis 20 Prozent ihres Budgets für Essen und Trinken ausgeben. In Russland sind es über 60 Prozent. Die Preissteigerungen bringen die Mehrheit der russischen Familien in schwere Notlagen. Sie gefährden ihre Existenz. Schon jetzt sinken die Umfragewerte von "Einiges Russland", trotz Putin als Spitzenkandidat.
Zur Person
Stanislaw Belkowskij ist Gründer und Leiter des Instituts für Nationale Strategie in Moskau.
Manche Meinungsforschungsinstitute sehen die Partei bei gerade mal 50 Prozent. Im Kreml rechnet man mit 70 Prozent.
Am Ende wird schon ein großartiges Wahlergebnis auf dem Papier stehen. Es noch um zehn bis 15 Prozent anzuheben, ist kein Problem. Wenn aus dem Kaukasus, Tartastan oder Baschkirien über 80 Prozent der Stimmen für "Einiges Russland" gemeldet werden, wer kann das schon überprüfen?
Sie sagen, Russland sei im Grunde ein Dritte Welt-Land.
Ja, reich an Bodenschätzen, aber durchsetzt von einem hochkorrupten Staatsapparat, sodass der Reichtum in private Taschen wandert, statt zur Entwicklung des Landes beizutragen. Die Infrastruktur ist in einem erbärmlichen Zustand: Straßen, Gesundheitswesen, Bildungssystem, Energieversorgung - fast alles noch auf dem Stand von vor 30 Jahren. Das gleiche gilt für die Anlagen zur Förderung und zum Transport von Öl und Gas. In fünf Jahren wird Russland Schwierigkeiten haben, Gas zu exportieren. Die Krise ist unausweichlich.
Putin kann ein beachtliches Wirtschaftswachstum vorweisen. Der Staat ist schuldenfrei, die Reallöhne der Russen werden in diesem Jahr um zwölf Prozent steigen, 2008 könnte Russland der größte Konsummarkt Europas sein.
Ich sehe eher die Stabilität des Bankensystems in Gefahr. Ein Grund dafür sind die zahllosen Verbraucherkredite, die in den vergangenen Jahren leichtfertig vergeben wurden und nun zurückgezahlt werden müssen. Die meisten Russen haben aber gar nicht vor, das zu tun. Die sehen dieses Geld als Kompensation für die unfaire Verteilung des Reichtums, weil sie von dem Öl- und Gas-Boom nicht profitieren.
Aber wie Sie schon sagten, Putin gilt als Garant für Stabilität.
Putin hatte einfach Glück, dass die Öl- und Gaspreise astronomisch gestiegen sind und eine große Krise ausgeblieben ist. Putins Stabilität ist im Grunde ein Stillstand. Er kam ins Amt, um die Eigentumsverhältnisse jener zu sichern, die sich während der Privatisierung in der Jelzin-Zeit bereichert haben. Das hat er getan.
Michail Chodorkowski hat sein Vermögen verloren und sitzt im Gefängnis.
Weil er sich nicht an die Regeln gehalten hat und das System in Gefahr brachte. Es ging bei Chodorkowski rein um wirtschaftliche Interessen. Russland wird beherrscht von etwa 17 verschiedenen Business-Clans. Das sind Leute wie Roman Abramowitsch, Aluminium-Magnat Oleg Deripaska oder Michail Fridman, der die Finanzgruppe Alfa kontrolliert.
Und was ist mit dem Geheimdienst, dem Putin wieder zu alter Stärke verholfen hat?
Diese Business-Clans benutzen die Geheimdienststrukturen, um ihre Macht auszuüben. Wer über die besten Kontakte verfügt, das heißt, den richtigen Leuten am meisten zahlt, hat den größten Einfluss. Zurzeit erleben wir eine gefährliche Auseinandersetzung hinter den Kulissen. Darin sind die Anti-Drogenbehörde und Mitglieder der Präsidentenadministration verwickelt.
Sie meinen den Vorfall, als ein FSB-Kommando auf dem Flughafen Domodedowo einen hohen General der Anti-Drogenbehörde überwältigte und es fast zu einer Schießerei gekommen wäre. Danach hat Russlands oberster Drogenbekämpfer Viktor Tscherkessow in einem offenen Brief geschrieben, Russland würde der Untergang drohen, sollten sich die Dienste weiter bekämpfen.
Tscherkessow ist ein Putin-Vertrauter und hätte gerne den Posten des FSB-Direktors. Das wiederum versucht der stellvertretende Leiter von Putins Präsidentenadministration Igor Setschin, der gleichzeitig Aufsichtsratschef des Erdölkonzerns Rosneft ist, zu verhindern. Er fürchtet, dass dann sein Einfluss auf den FSB schwinden würde.
Gibt es noch weitere Konflikte?
Ständig. Doch es kommt nur selten vor, dass die Öffentlichkeit davon erfährt. In den Regionen sitzen überall Angehörige irgendwelcher Clans in mächtigen Positionen. Leute, die des Betrugs, der Korruption, Veruntreuung oder sogar des Mordes verdächtig sind. Nehmen sie zum Beispiel Wladiwostok, wo der Bürgermeister, ein ehemaliger Banden-Chef mit Spitznamen Winnie Puuh, gerade im Gefängnis sitzt, weil er sich mit dem Gouverneur angelegt hat. Oder der Kaukasus, wo die Lage wieder völlig außer Kontrolle gerät. Jede Woche Anschläge und Schießereien. Da sieht man, wie wenig Einfluss Putin tatsächlich hat.
Hätte er denn die Möglichkeit gehabt, das Clan-System zu zerschlagen?
Warum hätte er das tun sollen? Er kann mit solchen Verhältnissen bestens umgehen. Das ist der eigentliche Grund für seinen rasanten Aufstieg. St. Petersburg galt in der Zeit, als er dort Vizebürgermeister wurde, als russische Hauptstadt des Verbrechens. Putins Aufgabe bestand darin, zwischen der Stadt und den mächtigen Bandenchefs, die ja den größten Teil der Wirtschaft kontrollierten, zu vermitteln. Das ist ihm erfolgreich gelungen. Im Grunde ist Putin nichts anderes als ein Geschäftsmann. Und ein vermögender dazu.
Haben Sie eine Ahnung wie vermögend?
Neulich wurde bekannt, dass einer seiner besten Freunde, Gennadi Timtschenko, Hauptinvestor bei der Schweizer Firma Gunvor ist, die den gesamten Öl- und Gashandel für Russland abwickelt. Ich denke mal, Gunvor beherrscht diese exklusive Stellung nicht zufällig. Timtschenko kontrolliert Gunvor für Putin. Das Unternehmen macht über 40 Milliarden Dollar Umsatz im Jahr und acht Milliarden Gewinn. Für eine finanziell gesicherte Zukunft dürfte also gesorgt sein.
Hat Putin ihrer Meinung nach Verdienste um Russland?
Auf jeden Fall. Sein größtes ist es, dass er dem Amt des Präsidenten wieder Respekt verliehen hat. Er hat erkannt, dass die Russen einen Zar brauchen.
Das meinen Sie ironisch.
Nein, das ist mein voller Ernst. Ohne einen solchen Führer ist dieses Land unregierbar.
Ist es nicht ein Ammenmärchen, dass Russland für eine westliche Demokratie ungeeignet ist? Die Russen sind doch gebildete und vernünftige Menschen.
Sie können ein System, das über 1000 Jahre bestanden hat, nicht in zehn Jahren ändern. Russland kann nur in einer Art Konstitutionellen Monarchie regiert werden. Das hat Putin erkannt. Seine Politik ist nicht populär - die Bildungsreform nicht, die Sozialreform nicht, die Armeereform nicht. Er hat weder die Stärke noch das Charisma von Jelzin. In jeder Krise hat er sich vor den Entscheidungen gedrückt, beim Untergang des Atom-U-Boots "Kursk" ebenso wie bei der "Nord-Ost"-Geiselnahme oder in Beslan. Trotzdem ist er beliebt. Denn er hat dafür gesorgt, dass das Präsidentenamt unantastbar ist. Niemand darf sich mehr im Fernsehen hinstellen, wie zu Jelzins oder Gorbatschows Zeiten, und den ersten Mann im Staat beschimpfen. Nach russischem Politikverständnis lässt ein wahrer Führer das nicht zu. Die Menschen lieben Putin, weil sie ihn für legitim halten.
Haben Sie schon eine Ahnung, wer sein Nachfolger wird?
Ach, das spielt keine Rolle. Einer aus seiner Mannschaft, der so weitermacht wie er.
Als was für ein Präsident wird Putin im Westen in Erinnerung bleiben?
Das hat er durch seinen Abgang geschickt eingefädelt. Weil er die Macht abgibt, obwohl ihn sein Volk auf Händen trägt, wird man im Westen sagen: Oh! Jetzt hat er doch noch bewiesen, dass er ein liberaler und demokratischer Staatsmann von großem Format ist.