Ukraine Lage am Kernkraftwerk Saporischschja nach Staudamm-Zerstörung: Deutscher Atom-Experte beruhigt, sieht aber trotzdem Gefahren

Atomkraftwerk Saporischschja in der Nähe des zerstörten Staudamms
Das Atomkraftwerk Saporischschja (rund 140 Kilometer flussaufwärts vom zerstörten Dnipro-Staudamm) wird seit Kriegsbeginn von russischen Truppen besetzt. Durch den Ausfall der Stromversorgung gab es bereits mehrfach heikle Situationen, hinzu kamen ausgelaugtes Personal und immer wieder gefährliche militärische Zwischenfälle an der Anlage (Bild aus dem Mai 2022).
© AP / DPA
Die Internationale Atomenergie sieht zurzeit keine "unmittelbare" Gefahr für das Kernkraftwerk Saporischschja durch die Zerstörung des Kachowka-Staudamms am Dnipro. Ein deutscher Atom-Experte erklärt im stern, wie er die Lage sieht.

Das Kernkraftwerk Saporischschja am Ufer des Dnipro wird mit Wasser aus dem längsten Fluss der Ukraine gekühlt – entsprechend besorgt blickte die Welt am Dienstagmorgen auf die Region, nachdem der Kachowka-Staudamm rund 140 Kilometer flussabwärts zerstört wurde.

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) beruhigte bald darauf. Es bestehe "kein unmittelbares Risiko für die nukleare Sicherheit im Kraftwerk", hieß es in einer Erklärung. Die Kühlwasserversorgung könne auch auf anderem Wege sichergestellt werden.

Keine Gefahr für Atomkraftwerk durch Staudamm-Zerstörung, aber ....

Auch Uwe Stoll, technisch-wissenschaftlicher Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), schloss sich dieser Einschätzung an. "Die Beschädigung des Kachowka Staudamms hat derzeit keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Sicherheit des Kernkraftwerkes", teilte er dem stern mit.

Die GRS ist ein gemeinnütziges Unternehmen von Bund, Nordrhein-Westfalen, Bayern und dem Tüv. Sie bezeichnet sich selbst als "Deutschlands zentrale Fachorganisation auf dem Gebiet der nuklearen Sicherheit".

Experte Stoll verwies auf mehrere auf dem Kraftwerksgelände vorhandene Wasserbassins, etwa einen sogenannten Kühlteich. "Dieser Kühlteich hat eine Verbindung zum Stausee, beziehungsweise einen Auslass, um die Wasserstände auszugleichen. Diese Verbindung kann jedoch geschlossen werden, so dass der Kühlteich unabhängig vom Wasserstand des Stausees ist." Dieser sinkt nach Angaben der IAEA um rund 2,5 Zentimeter pro Stunde und werde in "einigen Tagen" die kritische Pegelmarke von 12,7 Metern erreichen.

Derzeit seien jedoch ohnehin alle sechs Reaktoren von Europas größtem Atomkraftwerk abgeschaltet, der Wasserbedarf damit entsprechend geringer, weil kein Wasser für den Betrieb der Turbinen benötigt werde, berichtete Stoll. Zudem gebe es die Möglichkeit, die Wasserspeicher auch durch mobile Pumpen oder Brunnen auf dem Kraftwerksgelände zu füllen.

IAEA-Chef Rafael Grossi reist nach Saporischschja

Trotz der vordergründig beruhigenden Einschätzung warnte Experte Stoll vor grundsätzlichen Gefahren. Die Situation rund um das Kernkraftwerk Saporischschja sei unverändert "angespannt". "Neben Kampfhandlungen in unmittelbarer Nähe der Anlage und der fragilen Stromversorgung, ist es insbesondere die Situation des Personals, die uns Sorgen bereitet." Ein Kernkraftwerk dürfe nicht Teil einer kriegerischen Auseinandersetzung ein, betonte Stoll. "So steht es auch in der Genfer Konvention."

IAEA-Chef Rafael Grossi kündigte an, in der kommenden Woche nach Saporischschja zu reisen, um sich selbst ein Bild von der Lage vor Ort zu machen. Die Reise sei "unerlässlich". Die Atomenergiebehörde mit Sitz in Wien hat eigenes Personal an dem Atomkraftwerk vor Ort.

+++ Lesen Sie hier eine Reportage aus der Region um den Staudamm von stern-Reporterin Bettina Sengling: "Wenn Wasser zur Waffe wird: Was die Zerstörung des Kachowka-Staudamms für die Menschen in der Region bedeutet" +++