Ein wichtiger politischer Verbündeter des russischen Präsidenten Wladimir Putin soll ein Mädchen adoptiert haben, das aus einem ukrainischen Kinderheim entführt wurde. Sergej Mironow, Chef der kremltreuen Partei Gerechtes Russland und jahrelanger Vorsitzender des russischen Föderationsrates, werde in den Adoptionsunterlagen einer Zweijährigen genannt, die 2022 von seiner jetzigen Frau an Kindes statt angenommen wurde, berichtet der britische Sender BBC. Aus den Unterlagen gehe hervor, dass die Identität des Mädchens in Russland geändert wurde.
Russen in Militärkleidung holen Margarita ab
Der ursprüngliche Name des Kindes war der BBC zufolge Margarita. Das Mädchen sei gemeinsam mit 47 weiteren Bewohnern aus einem Kinderheim in Cherson verschwunden, nachdem die russischen Streitkräfte die südukrainische Stadt im Frühjahr 2022 für mehrere Monate besetzt hatten. Margarita war die Jüngste in dem Heim für Kinder mit medizinischen Problemen, deren Eltern das Sorgerecht verloren hatten oder gestorben waren. Ihre Mutter hatte das Sorgerecht kurz nach der Geburt aufgegeben, der Aufenthaltsort ihres Vaters war unbekannt.
Die damals zehn Monate alte Margarita sei im August 2022 wegen einer Bronchitis im Kinderkrankenhaus von Cherson behandelt worden, erzählte die zuständige leitende Ärztin Natalija Ljutikowa der BBC. Dort sei eine Frau in einem lilafarbenen Kleid aufgetaucht und habe sich als "Leiterin der Kinderabteilung aus Moskau" vorgestellt. Nachdem die Frau gegangen sei, habe mehrfach ein russischer Beamter angerufen, der kurz zuvor mit der Leitung des Kinderheimes beauftragt worden war, berichtete Ljutikowa. Er habe verlangt, dass Margarita sofort in das Heim zurückgeschickt werde.
Innerhalb einer Woche sei das Mädchen aus dem Krankenhaus entlassen worden. Am nächsten Morgen sei das Personal des Kinderheimes gebeten worden, Margarita für eine Reise vorzubereiten. "Wir hatten Angst, alle hatten Angst", zitiert die BBC Ljubow Sajko, eine Krankenschwester aus dem Heim. Russische Männer, einige in militärischen Tarnhosen, hätten das Mädchen abgeholt. "Es war wie in einem Film." Einige Wochen später seien auch die anderen Kinder, darunter Margaritas Halbbruder Maxym, verschleppt worden. Die Kinder würden in sichere Verhältnisse auf der russisch besetzten Halbinsel Krim gebracht, hieß es damals zur Begründung.
Fünf Monate lange versuchte die BBC nach eigenen Angaben zusammen mit der ukrainischen Menschenrechtlerin Viktoria Nowikowa, Margarita und die anderen 47 Kinder aufzuspüren. Schließlich sei es gelungen, die Frau in dem lila Kleid als Inna Warlamowa zu identifizieren, einer Mitarbeiterin des russischen Parlaments. Mithilfe von Daten über Zugticketkäufe habe man auch eine Fahrt nach Cherson nachverfolgen können, an dem Tag, an dem Margarita aus dem Kinderheim entführt wurde. Noch am selben Abend soll Warlamowa zurück nach Moskau gefahren sein – mit einem Extraticket.
Weitere Recherchen hätten ergeben, dass Warlamowa seit Kurzem verheiratet ist – mit dem 70-jährigen Parteichef Mironow. Das Ehepaar habe eine Tochter, deren Geburtseintrag im vergangenen Dezember für ein 14 Monate altes Mädchen namens Marina erstellt wurde, berichtet der britische Sender. Als Eltern seien dort Inna Warlamowa und Sergej Mironow aufgeführt. Einen Originaleintrag über die Geburt des Kindes gebe es unüblicherweise nicht. Marinas Geburtstag sei auf den 31. Oktober 2021 datiert – derselbe Tag, an dem Margarita geboren wurde.
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"Als ich sah, dass Marinas Geburtstag mit dem von Margarita zusammenfiel, war mir klar, dass es ein Volltreffer war", sagte Nowikowa der BBC. Anonyme russische Quellen hätten dann Margaritas Adoptionsakte beschafft. Diese belege, dass Margarita Prokopenko in Marina Mironowa umbenannt wurde, nach ihrem Adoptivvater Sergej Mironow.
Ukraine spricht von 20.000 verschleppten Kindern
Die russische Regierung erklärte der BBC zufolge, sie habe keine Kenntnis von Margaritas Fall und könne ihn nicht kommentieren. Mironow habe auf Bitten um eine Stellungnahme nicht reagiert.
Nowikowa übergab laut dem britischen Sender ein Dossier mit neuen Beweisen an die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft. Diese werde die Dokumente an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag weiterleiten.
Nach internationalem Recht gilt die Deportation von Kindern als Genozid. Kiew wirft den Kremltruppen vor, seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 rund 20.000 Kinder entführt zu haben. Die Universität Yale zählte im Februar dieses Jahres mindestens 6000 Kinder, die Russland in Umerziehungslager verschleppt haben soll. Auch deswegen erließ das Haager Tribunal Anfang 2023 Haftbefehl gegen Putin und seine Beauftragte für Kinderrechte, Marija Lwowa-Belowa (die Hintergründe lesen Sie hier).
Quelle: BBC