EU-Mitgliedschaft Eine Debatte, die falsche Erwartungen weckt: Warum die Ukraine der EU nicht rasch beitreten wird

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
"Wir wollen sie drinhaben": EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen
© JOHN THYS / AFP
Die Ukraine drängt auf den EU-Betritt – und die EU stellt ihr den Beitritt in Aussicht. Dabei dürfte allen klar sein, dass die Erwartungen aktuell nicht erfüllt werden können. Warum also die Debatte?

Er ist dafür, sie ist dafür – also worauf warten?

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat viele belastbar geglaubte Gewissheiten beseitigt und ein Umdenken in Gang gesetzt, nicht zuletzt in der deutschen und europäischen Sicherheitspolitik, das durchaus als "Zeitenwende" bezeichnet werden kann.

Und so erfährt auch eine Debatte eine neue Dringlichkeit, die schon seit Jahren geführt wird: Sollte die Ukraine der Europäischen Union beitreten?

Präsident Wolodymyr Selenskys drängt angesichts der Invasion auf einen Beitritt im Eilverfahren, forderte die Staatengemeinschaft am Montag zur "unverzüglichen Aufnahme der Ukraine nach einer neuen speziellen Prozedur" auf. Zuvor hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Erwartungen geweckt, als sie in einem Interview eine Mitgliedschaft befürwortete: "Im Laufe der Zeit gehören sie tatsächlich zu uns, sie sind einer von uns und wir wollen sie drin haben", sagte sie.

Aber, wie so oft in diesen unübersichtlichen Stunden und Tagen, kommt es auf die Nuancen an.

Es dürfte noch einige Zeit dauern, bis es tatsächlich zu Beitrittsverhandlungen kommt – wie Von der Leyen zumindest andeutete ("Im Laufe der Zeit...") und ihr Sprecher im Nachgang betonte. Die Äußerungen der Kommissionspräsidentin seien "extrem allgemein" gewesen, beschwichtigte Eric Mamer, und drückte lediglich die Überzeugung aus, dass die Ukraine ein europäisches Land sei.

Der EU-Beitritt der Ukraine bleibt also denkbar, aber rasch wird's wohl nicht gehen.

Das hat mehrere Gründe, technische wie politische. Die Kriterien für einen Beitritt sind detailliert ausbuchstabiert – und eine Mitgliedschaft der Ukraine, jedenfalls ohne eine "neue spezielle Prozedur", wie sie sich Präsident Selenskyj wünscht, praktisch ausgeschlossen.

"Es ist eine Fehlinterpretation, dass die Ukraine nun rasch Mitglied werden kann"

"Nach den europäischen Verträgen kann jedes europäische Land, das die Werte der EU teilt, einen Aufnahmeantrag stellen", sagt Gunther Krichbaum, der europapolitische Sprecher der Unionsfraktion, zum stern. "Das gilt natürlich auch für die Ukraine." Allerdings sei kein EU-Beitrittsverfahren in der Schnelle möglich. "Das Verfahren verteilt sich – je nach Beitrittsland – auf bis zu 35 Kapitel. Dabei geht es etwa um innen- und wirtschaftspolitische Kriterien, die für eine Aufnahme erfüllt sein müssen. Wenn die Bedingungen erfüllt sind, werden die Kapitel nach um nach geschlossen."

Beitrittskandidaten werden in einem langwierigen Prozess an die EU herangeführt, sodass die nötigen Reformen und Anpassungen an den Rechtsrahmen der EU vorgenommen werden können. Für eine Aufnahme muss sich ein Bewerberland etwa als stabile und rechtsstaatliche Demokratie erweisen, aber auch über eine funktionsfähige und wettbewerbsfähige Marktwirtschaft verfügen – um nur einige der "Kopenhagener Kriterien" zu nennen, die den Beitritt regeln. Die Republik Nordmazedonien, derzeit eines von insgesamt fünf Kandidatenländern, wartet schon seit 2005 auf den Beginn der Beitrittsverhandlungen.

Die Ukraine, ein "strategischer Partner" der EU, dürfte von einer Aufnahme daher noch weit entfernt sein. Trotz jahrelanger Förderung ist "Großkorruption nach wie vor ein zentrales Problem in der Ukraine", stellte der Europäische Rechnungshof (ECA) in einem Sonderbericht im September 2021 fest. Diese sei ein "Haupthindernis" für die Entwicklung des Landes und "läuft den Werten der EU zuwieder", so die Prüfer. "Korruption auf höchster Ebene und sogenannte Staatsvereinnahmung sind in der Ukraine weit verbreitet. Sie behindern nicht nur Wettbewerb und Wachstum, sondern schaden auch dem Demokratisierungsprozess."

Die Debatte um eine rasche EU-Mitgliedschaft der Ukraine weckt daher falsche Erwartungen. Zwar ist der Äußerung Selenskyjs, die Ukrainer hätten die Mitgliedschaft angesichts des russischen Angriffskriegs "verdient", moralisch wenig entgegenzusetzen. Doch die politische (und traurige) Wahrheit ist, dass die Aufnahme nicht durch ein Bekenntnis zu westlichen Werten und den Mut, diese im Kampf gegen russischen Invasoren zu verteidigen, entschieden wird.

"Es ist eine Fehlinterpretation, dass die Ukraine nun rasch Mitglied werden kann. Davon geht auch niemand aus", sagt der Unionspolitiker Krichbaum zum stern. "Präsident Selenskyj geht es darum, den Status eines Kandidatenlandes zu bekommen. Dieser würde über das bestehende Assoziationsabkommen mit der Europäische Union hinausgehen und etwa weitere Heranführungsbeihilfen aus dem EU-Haushalt erlauben, um den Weg hin zur Mitgliedschaft weiter zu gehen." Das habe auch Signalwirkung, so Krichbaum. "Ursula von der Leyen wollte mit ihren Äußerungen ein Signal der Hoffnung in diesen schwierigen Zeiten setzen", sagt er. "Die Ukraine gehört zu Europa, sie hat auch in der Staatengemeinschaft 'Europäische Union' eine Zukunft, darum geht es ihr. Diese Botschaft ist nicht zu unterschätzen."

Ein zweideutiges Signal

Doch was ein Signal der Hoffnung für die einen ist, könnte ein Signal der Bedrohung für die anderen sein. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte den Angriffskrieg auch damit begründet, dass sich die Ukraine nach Westen orientiere und eine Mitgliedschaft in der EU und Nato anvisiere. Insofern könnte eine Beitrittsdebatte auch politisch nicht opportun sein – neben den technsichen Gründen –, da sie Friedensgespräche erschweren dürfte.

Die Entscheidung über einen Aufnahmeprozess, ob beschleunigt oder nicht, liegt ohnehin nicht bei Kommissionspräsidentin Von der Leyen, sondern bei den EU-Ländern. Ratspräsident Charles Michel, der die EU-Staaten in Brüssel vertritt, sicherte zumindest eine ernsthafte Prüfung des Gesuchs um einen Beitritt zu. Das sei ein schwieriges Thema und es gebe unterschiedliche Auffassungen der Mitgliedstaaten, sagte Michel am Dienstag im Europaparlament. "Aber der Rat wird sich da seiner Verantwortung nicht entziehen können."

Eine rasche Entscheidung ist unwahrscheinlich, zumal sie wohl kaum unmittelbar greifbare Unterstützung bedeuten würde. "Das Signal der Hoffnung ist gut, doch die Menschen in der Ukraine brauchen jetzt Hilfe", sagt Unionspolitiker Krichbaum, "zum Beispiel in Form von kommunalen Partner- und Patenschaften mit anderen europäischen Städten und Gemeinden." Das könne den Menschen vor Ort "schnell und konkret" helfen und würde "die Zusammengehörigkeit der Menschen stärken."

Auch die SPD-Fraktion sieht aktuell offenbar drängendere Themen. "Angesichts der durch nichts zu rechtfertigenden Aggression Russlands steht aktuell vor allem die praktische Solidarität mit der Ukraine im Vordergrund – durch humanitäre Hilfe, durch die Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen, auch durch Waffenlieferungen", sagt der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Achim Post zum stern.

Darüber hinaus müsse es darum gehen, "wo immer es die Lage erlaubt, die Ukraine mit aller Kraft auf ihrem europäischen Weg weiter zu unterstützen." Dafür brauche es "so schnell wie irgend möglich" konkrete Fortschritte, etwa bei der weiteren Anbindung an den Binnenmarkt oder in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenarbeit.

Die Ukrainerinnen und Ukrainer würden derzeit die europäischen Werte gegen eine "beispiellose und barbarische Aggression durch den russischen Präsidenten Putin verteidigen", so Post. Daher sei es umso wichtiger, "dass wir, wenn dieser Krieg hoffentlich bald zu Ende ist, die europäische Perspektive der Ukraine mutig weiterentwickeln, Schritt für Schritt vertiefen und vor allem ganz konkret und praktisch für die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine erfahrbar machen."

Die Ukraine hat den EU-Beitritt seit 2019 auch in ihrer Verfassung verankert, somit zum Staatsziel erklärt. Und Präsident Selenskyj ist bereit, dafür zu kämpfen. "Wir kämpfen für unsere Rechte, für unsere Freiheit, für unser Leben. Und nun kämpfen wir ums Überleben", sagte er am Dienstag zu Beginn einer Sondersitzung des Parlaments in einer Videobotschaft. "Aber wir kämpfen auch, um gleichwertige Mitglieder Europas zu sein.".

Auch EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen äußerte sich erneut zu der Debatte, nun jedoch verhaltener. Schon heute seien sich die Ukraine und die Europäische Union näher als je zuvor. "Aber es liegt noch ein langer Weg vor uns." Der Krieg müsse beendet und über die nächsten Schritte gesprochen werden. "Ich bin sicher: Niemand in diesem Plenarsaal kann daran zweifeln, dass ein Volk, das so mutig für unsere europäischen Werte steht, zu unserer europäischen Familie gehört."

Sie schloss ihre Rede mit den Worten: "Lang lebe Europa. Und lang lebe die freie und unabhängige Ukraine."

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