Nach zweieinhalb Jahren Krieg deutet sich ein möglicher Weg zu einer Verhandlungslösung an. "Selenskyj wird gezwungen sein, ein Referendum abzuhalten. Ich glaube nicht, dass er ohne die Legitimation des Volkes allein so schmerzhafte und wichtige Vereinbarungen treffen kann", sagte der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko dem italienischen "Corriere della Sera". Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst hatte in den ersten Wochen des Krieges ein Referendum ins Spiel gebracht. Später unterzeichnete er jedoch ein Dekret, das Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ausschloss. Nun ist Selenskyj aber von dieser Position abgerückt. "Wir werden mit denen sprechen, die in Russland alles entscheiden", ließ er einem Interview mit der BBC wissen.
Die Veränderung der Rhetorik findet vor dem Hintergrund der schlechter werdenden militärischen Lage statt: Nach den massiven Raketenangriffen auf die Infrastruktur ist die Wärme- und Stromversorgung des Landes im nächsten Winter gefährdet. An der Front, insbesondere im Donbas, verlieren die Ukrainer jeden Tag Gebiete an die angreifenden Russen.
Die Fragen nach Gebietsabtretungen der Ukraine
Das bleibt nicht ohne Folgen für die Stimmung der Bevölkerung. In einer Umfrage von Ende Juni sprachen sich 44 Prozent dafür aus, Friedensgespräche aufzunehmen, 35 Prozent waren dagegen. Schwerer tun sich die Ukrainer mit Gebietsabtretungen: Nur knapp zehn Prozent wären mit der Festschreibung der aktuellen Frontlinie einverstanden, ein Viertel mit einer Rückkehr zur Situation vor dem Überfall. Die Hälfte hält eine Rückkehr zu den Grenzen von 1991, also inklusive Donbas und Krim, für unabdingbar. Selenskyj selbst nennt das in Interviews der jüngsten Zeit nicht mehr als Vorbedingung für Verhandlungen mit Russland.
Der Kiewer Politologe Wolodymyr Fesenko erinnert allerdings im Gespräch mit dem stern daran, dass eine Grundbedingung für eine erfolgreiche Verhandlungslösung "militärische Parität" an der Front sei: "Zu einem Kompromiss zwingt Putin nur die Erkenntnis, dass er den Krieg gegen die Ukraine nicht gewinnen kann."
Zur militärischen Parität gehört auch eine Stärkung der Raketenabwehr: Ende Juli lieferte Deutschland das dritte Patriot-System. Selenskyj begrüßte es als "Gewinn für die Ukraine".