Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat eine "Pattsituation" im Krieg mit Russland bestritten. "Die Menschen sind müde (...). Aber dies ist keine Pattsituation", sagte der ukrainische Staatschef am Samstag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Kiew und widersprach damit Äußerungen des urkainischen Armeechefs Walery Saluschny. Dieser hatte zuvor von einer "Pattsituation" im seit 20 Monaten andauernden Krieg gegen Russland gesprochen. Unterdessen vermeldete die ukrainische Armee "erfolgreiche" Angriffe auf eine Werft auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim.
In einem Interview mit der britischen Zeitschrift "The Economist" hatte der ranghöchste Militärvertreter der Ukraine in dieser Woche gesagt, die Konfliktparteien würden sich entlang der Frontlinie einen Abnutzungs- und Stellungskrieg liefern. "Wie im Ersten Weltkrieg haben wir ein technologisches Niveau erreicht, das uns in eine Pattsituation bringt", sagte der General. Es werde "sehr wahrscheinlich" keinen "tiefen" Durchbruch geben.
Russland hatte die Ukraine im Februar 2022 angegriffen. Die russischen Streitkräfte waren damals auf Kiew zu marschiert. Es war ihnen aber letztlich nicht gelungen, die ukrainische Hauptstadt einzunehmen und die Regierung von Präsident Selenskyj zu stürzen. Eine im Juni dieses Jahres gestartete ukrainische Gegenoffensive konnte gegen die russischen Verteidigungslinien bisher nur geringe Gebietsgewinne verzeichnen.
Ukraine attackiert russische Krim-Werft
Unterdessen bestätigte die ukrainische Armee Einzelheiten zu einem am Samstag erfolgten Angriff auf eine Werft auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim. Am "Abend des 4. November" hätten die Streitkräfte "erfolgreiche Angriffe auf die See- und Hafeninfrastruktur der Saliw-Werft im vorübergehend besetzten Kertsch ausgeführt", erklärte die Armee am Sonntag. Nach Angaben des ukrainischen Luftwaffenkommandeurs Mykola Oleschuk war in der im Osten der Krim gelegenen Werft ein Trägerschiff für Kalibr-Raketen stationiert.
Das russische Verteidigungsministerium erklärte laut Staatsmedien seinerseits, dass die ukrainischen Streitkräfte am Samstag "15 Marschflugkörper" auf die Saliw-Werft abgefeuert hätten. 13 von ihnen seien abgewehrt worden, hieß es weiter. Infolge des "Treffers durch einen feindlichen Marschflugkörper" sei jedoch ein Schiff in der Anlage beschädigt worden. Das Ministerium in Moskau machte jedoch weder Angaben zum Schiffstyp noch zum Ausmaß der Schäden.
Am Tag zuvor hatte der von Russland eingesetzte Gouverneur Sergej Aksjonow erklärt, dass "einige der Trümmer der abgeschossenen Raketen" auf das Gelände eines der Trockendocks gefallen seien. Verletzte habe es keine gegeben, schrieb er in Onlinediensten.
Ukrainische Angriffe auf russische Gebiete haben seit Beginn der ukrainischen Gegenoffensive im Juni zugenommen. Die 2014 von Russland annektierte Halbinsel Krim wird regelmäßig ins Visier genommen, da sie Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte und eine wichtige Nachschubroute für die russischen Streitkräfte in der Süd- und Ostukraine ist.
Weiter heftige Kämpfe um Frontstadt Awdijiwka
Russische Truppen haben nach Angaben ukrainischer Militärs am Sonntag erneut mehrere Vorstöße in Richtung der ostukrainischen Stadt Awdijiwka unternommen. Dabei seien über 400 russische Soldaten getötet und zwölf gepanzerte Fahrzeuge zerstört worden, teilte der für diesen Frontabschnitt zuständige Kommandeur Olexandr Tarnawskyj auf Telegram mit. Die russischen Angriffe, unterstützt von Kampfflugzeugen und Artillerie, seien abgeschlagen worden. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Die Ukraine wehrt seit über 20 Monaten eine russische Invasion ab. Nahe Awdijiwka verlief bereits seit 2014 die Frontlinie zu den von Moskau unterstützten Separatisten. Aktuell ist die stark zerstörte Stadt bereits von drei Seiten von russischen Truppen umgeben. Die russisch kontrollierte Gebietshauptstadt Donezk liegt nur wenige Kilometer südlich von Awdijiwka entfernt.
Zeremonie im Frontgebiet – Soldaten getötet
In der Ukraine sind bei einer umstrittenen Zeremonie im Frontgebiet nach offiziellen Angaben zahlreiche Soldaten durch einen russischen Angriff getötet worden. Die Soldaten nahmen demnach im Gebiet Saporischschja an einer Ehrung zum Tag der Artillerie teil, also dort russische Geschosse einschlugen. Das Internetportal "Ukrainska Prawda" berichtete von mehr als 20 Toten. Verteidigungsminister Rustem Umjerow bestätigte die "Tragödie", nannte aber keine Zahlen. Die Behörden in der Heimatregion der Soldaten im Gebiet Transkarpatien setzten am Sonntag eine dreitägige Trauer an.
Minister Umjerow sprach den Angehörigen der "gefallenen Soldaten der 128. Gebirgsjägerbrigade Transkarpatien" bei Facebook sein Beileid aus. Er nannte keine Details – auch nicht den Tag. Der Vorfall soll sich bereits am Freitag ereignet haben. "Alle Umstände dessen, was passiert ist, werden aufgeklärt", teilte er mit. "Unser Feind ist ein heimtückischer Terrorist." Verwandte und Freude sollten ehrliche Antworten erhalten.
Der Chef der Militärverwaltung von Transkarpatien, Viktor Mykyta, teilte am Sonntag mit, die "Brüder" seien auf tragische Weise getötet worden. In den kommenden Tagen sollten Staatsflaggen auf halbmast gesenkt und morgens Schweigeminuten gehalten werden.
In sozialen Netzwerken gab es scharfe Kritik an der Militärführung, dass eine solche Zeremonie im Frontgebiet überhaupt zugelassen wurde. Die Verantwortlichen müssten bestraft werden, forderten Ukrainerinnen und Ukrainer in Kommentarspalten. Berichten zufolge hatten die Behörden und der Minister den Vorfall zudem erst bestätigt, nachdem die Informationen lange in sozialen Netzwerken und schließlich auch in den Medien kursierten.
Minister will ukrainische Verteidigung reformieren
Der ukrainische Verteidigungsminister Rusten Umjerow plant eine komplette Reform des Militärdienstes innerhalb der nächsten fünf Jahre. Nach dem am Sonntag veröffentlichten Konzept sollen die ukrainische Streitkräfte künftig zu einem Vertrags-Militärdienst übergehen. Bei Rekrutierung und späterer Laufbahn der Soldaten soll deren vorherige Ausbildung berücksichtigt werden. Auch eine berufliche Gleichstellung der Geschlechter innerhalb der Streitkräfte werde angestrebt.
Nach Umjerows Vorstellungen sollte auch die Zusammenarbeit zwischen ukrainischen Hochschulen und ähnlichen Institutionen der EU- und Nato-Staaten verstärkt werden. Ziel des Konzepts sei, den Personalbedarf der Streitkräfte zu decken. Daneben soll es der ukrainischen Armee möglich werden, "sich in den euro-atlantischen Sicherheitsraum zu integrieren und die Interoperabilität der ukrainischen Streitkräfte mit den Streitkräften der Nato-Mitgliedstaaten zu gewährleisten".
Von der Leyen: EU-Beitrittsverhandlungen bald eröffnen
Bei einem Besuch in Kiew hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen der Ukraine "beeindruckende Reformen" bei ihrem Streben nach einer EU-Mitgliedschaft bescheinigt. "Sie haben große Fortschritte gemacht, viel größere, als man sie von einem Land, das sich im Krieg befindet, erwarten kann", sagte von der Leyen am Samstag vor den Parlamentsabgeordneten in der ukrainischen Hauptstadt. Der Besuch erfolgte vor der Vorstellung des neuen EU-Erweiterungsberichts am Mittwoch.
Das Ziel Kiews, den Prozess der EU-Beitrittsverhandlungen bereits in diesem Jahr zu eröffnen, sei "wirklich in Reichweite", betonte die Kommissionschefin. "Sie haben bereits deutlich über 90 Prozent des Wegs hinter sich."
Die EU-Kommissionschefin bezeichnete die Reformen der Ukraine als "beeindruckend". Sie verwies auf die Reform der Verfassungsjustiz, die Besetzung des Hohen Justizrates, ein Antikorruptionsprogramm, Fortschritte bei der Bekämpfung der Geldwäsche sowie Maßnahmen, um den Einfluss der Oligarchen einzudämmen. Zudem gebe es ein neues Mediengesetz und Fortschritte beim Schutz nationaler Minderheiten.
Die Ukraine hatte wenige Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar 2022 ihre Mitgliedschaft in der Europäischen Union beantragt. Bereits im Juni 2022 erhielt sie den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Dieser Schritt hatte vor allem Symbolwirkung. Die wichtigere Hürde ist die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen. Experten hatten erklärt, der Ukraine stehe ein langer und schwieriger Weg bis zu einer Mitgliedschaft bevor.
Damit Beitrittsverhandlungen eröffnet werden können, muss die Ukraine nach dem Willen Brüssels sieben Bedingungen erfüllen – unter anderem Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung und Justizreformen. Die Erweiterung wird zentrales Thema des EU-Gipfels am 14. und 15. Dezember in Brüssel sein.