Was will Wladimir Putin? Auch am 44. Tag des Ukraine-Kriegs erweist sich eine Antwort als schwierig. Die Entscheidung über das Ende der russischen Invasion scheint allein im Kopf des Kremlherrschers zu fallen. Einem Ort, der hier als wahnhaft und dort als entrückt beschrieben wird und sich bislang allen Versuchen der Kartografierung und Krisendiplomatie zu verweigern scheint.
Was Wladimir Putin nicht will, ist hingegen offenkundig: verlieren, oder auch nur den Anschein erwecken, dass irgendetwas nicht nach seinem Plan verlaufen könnte. Der rasche Rückzug der Truppen aus den Gebieten im Norden und Nordosten der Ukraine, also das offensichtliche Scheitern der russischen Offensive, wird da kurzerhand zum Teil der Strategie umgedeutet.
Insofern war der Auftritt von Kreml-Sprecher Dmitri Peskow bei Sky News durchaus bemerkenswert. Nicht etwa, weil er einem westlichen Fernsehsender ein Interview gegeben hat, sondern was er dort gesagt hat: "Wir haben bedeutende Verluste", räumte Putins Sprachrohr ungewöhnlich offen ein, "das ist eine gewaltige Tragödie für uns." Vor Kurzem hatte er noch bei CNN versichert, dass der russische Angriff "streng nach Plan" verlaufe.
Sechs Wochen nach dem Einmarsch in die Ukraine hat die Führung in Moskau damit erstmals große Verluste in der Truppe zugegeben. Wie viele Soldaten tatsächlich gestorben oder verwundet sind, sagte Peskow allerdings nicht. Zuletzt hatte Russland von 1351 getöteten eigenen Soldaten gesprochen. Tatsächlich dürfte die Zahl deutlich höher liegen.
Wie hoch sind die russischen Truppenverluste?
Schätzungen der Nato zufolge, wurden innerhalb des ersten Kriegsmonats bis zu 40.000 russische Soldaten getötet, verletzt, gefangen genommen oder vermisst. Das Verteidigungsbündnis ging Ende März davon aus, dass zwischen 7000 und 15.000 russische Soldaten gefallen seien. Auch das britische Verteidigungsministerium sprach zu diesem Zeitpunkt "mit ziemlicher Sicherheit" von "Tausenden Opfern" in der russischen Armee.
Eine realistische Größenordnung, meint der Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations (ECFR). "Etwa 12.000 bis 14.000 sind gestorben, und ungefähr 25.000 bis 30.000 verletzt und kampfunfähig – das ist sehr viel", taxierte er die russischen Verluste gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. "Bei den Kampftruppen sehen wir besonders viele Verluste, zum Beispiel bei den Fallschirmjägern, Motschützen in der Panzertruppe, bei Kampfunterstützungstruppen wie der Artillerie und der Fliegerabwehr." Die ukrainischen Streitkräfte zählen sogar knapp 19.000 getötete russische Soldaten.
Überprüfbar sind die Angaben nicht. Es handelt sich um Kriegsinformation im Rahmen eines Informationskrieges. Den der Kreml seit Beginn der Invasion auch im eigenen Land führt.
Neue Gesetze stellen "Fake News" über das eigene Militär unter Strafe, der "Krieg" wird aus dem Sprachgebrauch getilgt und Proteste zerschlagen. Offiziell wird die Zahl der militärischen Todesopfer in Folge der "Spezialoperation", so der russische Euphemismus für den Angriffskrieg, auf 1351 beziffert – eine Zahl, die im Staatsfernsehen kaum eine Rolle spielt. Und damit auch nicht in den Köpfen eines Großteils der russischen Bevölkerung, der Hinterbliebenen, die gegen Putins Feldzug aufbegehren könnte.
Putin schafft (seine) Fakten
Putin schafft (seine) Fakten und versucht, unliebsame Berichte durch Strafandrohung zu unterbinden. Schon 2015 unterzeichnete er ein Dekret, das es verbietet, auch in Friedenszeiten über den Tod von Angehörigen des Verteidigungsministeriums bei "Spezialeinsätzen" zu berichten. Zuvor wurde bereits der Verlust von Soldaten in Kriegszeiten zum "Staatsgeheimnis" erklärt.
Damals häuften sich Meldungen über tote oder gefangene russische Soldaten im umkämpften Donbass. Russland stritt damals internationale Vorwürfe ab, selbst Soldaten in den Kampf zu schicken – bei den Kämpfern an der Seite der prorussischen Rebellen handle es sich um "Freiwillige", die zu den Waffen greifen würden, hieß es.

Auch die Havarie eines russischen U-Bootes im Jahr 2019 wurde zum "Staatgeheimnis" erklärt, weshalb man Details zu dem Vorfall "nicht komplett öffentlich" machen könne, wie Kreml-Sprecher Peskow seinerzeit erklärte. Nach einem Feuer an Bord waren 14 teils ranghohe Marineangehörige ums Leben gekommen, die nach offiziellen Angaben auf einer Mission zur Erforschung des Meeresbodens in nordrussischen Gewässern unterwegs waren. Örtlichen Medienberichten zufolge soll es sich allerdings um ein atombetriebenes Mini-U-Boot auf geheimer Mission gehandelt haben, was auch die norwegische Strahlenschutzbehörde NRPA auf den Plan rief.
Wie hoch die "bedeutenden Verluste" Russlands im Ukraine-Krieg tatsächlich beziffert werden müssen, weiß wohl nur Putin selbst – der kaum gewillt sein dürfte, seine Kenntnisse mit der Welt und der russischen Bevölkerung zu teilen. Die Propaganda des Kremlherrschers, das Zurückhalten von Informationen, folgt einer schrägen Logik: Wer nichts weiß, kann auch nichts glauben – und wird nichts tun. Ganz nach Putins Willen.