Die Invasion Russlands in der Ukraine hat eine neue Phase erreicht. Präsident Wladimir Putin ist mit seinem Plan, die Hauptstadt Kiew und weitere Großstädte in einer Art Blitzkrieg zu erobern und die Regierung von Wolodymyr Selenskyj zu stürzen, am heftigen Widerstand der ukrainischen Armee gescheitert. Moskau hat seine Truppen daraufhin aus dem Norden abgezogen und will sich militärisch auf die Donbass-Region im Osten der Ukraine konzentrieren.
Blitzangriff ist gescheitert
Am 24. Februar drang die russische Armee von Norden, Osten und Süden her in die Ukraine ein. Der Kreml rechnete mit einem schwachen Gegner und einem schnellen Sieg, ähnlich wie bei der Annexion der Halbinsel Krim im Jahr 2014. Und tatsächlich gelang es Putins Truppen von Belarus aus, rasch die Außenbezirke der ukrainischen Hauptstadt Kiew zu erreichen, die nur 75 Kilometer südlich der belarussischen Grenze liegt.
Doch weiter als bis in die Vororte kamen die Angreifer nicht. Den ukrainischen Streitkräften, die mittlerweile viel besser trainiert und ausgerüstet sind als 2014, gelang es, den russischen Vormarsch zu stoppen. Daraufhin verlegte Russland sich auf Bombardierungen mit Artillerie und aus der Luft und versuchte, Kiew und weitere große Städte im Norden einzukesseln. Der Beschuss hatte massive zivile Opfer und Zerstörungen der Infrastruktur zur Folge, konnte den Widerstand der Ukrainer aber nicht brechen. Im Gegenteil: Die ukrainischen Einheiten setzten ihrerseits erfolgreich Artillerie und Drohnen gegen russische Konvois auf und entlang der Straßen im Norden des Landes ein und bescherten Russland dadurch große Probleme bei der Versorgung seiner Truppen mit Nachschub.
"Putin dachte, er könne sehr schnell das Land Ukraine übernehmen, sehr schnell diese Hauptstadt einnehmen. Er hat sich geirrt", sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am Donnerstag bei einer Anhörung des Senatsausschusses für Streitkräfte im Kongress in Washington.
Verkündung einer neuen Strategie
Am 25. März kündigte Russland einen drastischen Strategiewechsel an: Vize-Generalstabschef Sergej Rudskoj erklärte, die Armee werde ihre Angriffe künftig auf die Separatistenregion in der Ostukraine konzentrieren. Die ersten bei dem Militäreinsatz gesetzten Ziele seien erreicht und die "ukrainischen Kampfeinheiten in bedeutendem Umfang reduziert worden", so Rudskoj. Damit könne die Armee künftig "den Großteil ihrer Anstrengungen auf das Hauptziel richten: die Befreiung des Donbass".
Es folgte ein rascher Rückzug aus den Gebieten im Norden und Nordosten. Die Soldaten wurden nach Belarus und Russland verlegt, um sich auszuruhen und mit Nachschub versorgt zu werden.
Moskau bemühte sich, das offensichtliche Scheitern seiner Offensive als erfolgreiche Taktik zu verkaufen. Die Aktion im Norden habe darauf abgezielt, die ukrainischen Streitkräfte dort zu binden und zu schwächen und sie daran zu hindern, sich den im Osten kämpfenden Truppen anzuschließen, hieß es aus dem Kreml. Dabei hatte Putin zu Beginn der Invasion persönlich das Ziel ausgegeben, die gesamte Ukraine zu "entnazifizieren", Selenskyj zu stürzen und die ukrainischen Streitkräfte zu zerschlagen.
"Russland positioniert seine Streitkräfte neu, um seine Offensivoperationen auf die Ost- und Teile der Südukraine zu konzentrieren", erklärte Anfang der Woche der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan. Moskau könne dann jeden taktischen Erfolg bei der neuen Strategie nutzen, um ein Narrativ des Fortschritts zu propagieren und frühere militärische Misserfolge herunterzuspielen.
Truppenabzug und Wiederaufrüstung
Beobachtern zufolge könnten die russischen Truppen mehrere Wochen brauchen, um sich neu zu versorgen und zu formieren, bevor sie einen Angriff im Osten starten könnten. "Viele russische Einheiten, die sich aus der Nordukraine zurückziehen, müssen wahrscheinlich in erheblichem Umfang umgerüstet und aufgefrischt werden, bevor sie für Operationen in der Ostukraine zur Verfügung stehen", twitterte das britische Verteidigungsministerium.
Einige westliche Beobachter schätzen, dass fast ein Viertel der russischen Truppen, die an den Kämpfen beteiligt waren, nicht mehr einsatzfähig ist und lange umgerüstet und mit Nachschub versorgt werden muss, bevor die Soldaten wieder in den Kampf geschickt werden können.
"Wir sehen, dass Russland seine Einheiten neu positioniert und einige von ihnen zurückholt, um sie wiederaufzurüsten, zu verstärken und neu zu versorgen", sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg dem US-Sender CNN. Russland habe in den verschiedenen Einheiten viele Soldaten verloren, "aber wir sollten nicht zu optimistisch sein, denn die Angriffe werden weitergehen".
Biden-Berater Sullivan erklärte, Moskau bereite sich wahrscheinlich darauf vor, Dutzende zusätzlicher taktischer Bataillone mit Zehntausenden Soldaten an die Frontlinie in der Ostukraine zu verlegen. Nach US-Einschätzung dürfte Russland während dieser neuen Bodenoffensive wahrscheinlich weiterhin Luft- und Raketenangriffe auf den Rest des Landes fliegen, um militärischen und wirtschaftlichen Schaden anzurichten und Terror zu verbreiten – auch gegen Städte wie Kiew, Odessa oder Lemberg.
"In den kommenden Wochen erwarten wir einen weiteren russischen Vorstoß in der Ost- und Südukraine", erklärte Stoltenberg. Damit solle versucht werden, "den gesamten Donbass einzunehmen". Und Sullivan mahnte, diese nächste Phase des Krieges dürfte weniger in Wochen, sondern eher "in Monaten oder länger" gemessen werden.
Der Kampf um die Ostukraine
Der Separatistenkonflikt in der Ostukraine, in der eine mehrheitlich russischsprachige Bevölkerung lebt, begann 2014 kurz nach der Annexion der Krim durch Russland und hat bislang mehr als 14.000 Menschenleben gefordert. Die ukrainischen Streitkräfte kostete der Dauerkonflikt viel Kraft, sie haben dabei aber auch reichlich Kampferfahrung gesammelt und entlang der Frontlinie vielschichtige Verteidigungsanlagen aufgebaut. Diese Bemühungen zahlten sich zu Beginn der russischen Invasion aus, denn sie verhinderten, dass die separatistischen Kräfte und die russischen Truppen trotz ihrer klar überlegenen Feuerkraft nennenswerte Erfolge erzielen konnten.
Eine besondere strategische Bedeutung haben die Großstadt Slowjansk und ihre Schwesterstadt Kramatorsk im Gebiet Donezk. Weil der Boden mit dem Ende des Winters taut und matschig ist, ist ein Vorankommen mit schweren Militärfahrzeugen quer über offenes Feld kaum möglich. Damit ist die geteerte Straße zwischen Slowjansk und dem rund 20 Kilometer weiter nördlich gelegenen Ort Isjum, der seit wenigen Tagen von russischen Truppen besetzt ist, einer der wenigen Wege von den besetzten Gebieten ins Zentrum des Donbass. "Slowjansk wird das nächste entscheidende Schlachtfeld im Ukraine-Krieg", ist sich der in Washington ansässige Thinktank Institute for the Study of War (ISW) sicher.
Ukrainische Soldaten haben in dem Gebiet Stellung bezogen und machen sich mit Artillerie, Panzerfahrzeugen, Schützengräben und Panzersperren für eine russische Offensive bereit. "Wir wissen, dass die Russen Truppen zusammenziehen und einen Angriff vorbereiten", sagte ein ranghoher ukrainischer Offizier vor Ort der Nachrichtenagentur AFP. "Wir sind bereit. Wir haben ein paar Überraschungen für sie auf dem Weg vorbereitet."
Seit Beginn des Krieges zählt auch Mariupol zu Putins wichtigsten Angriffszielen. Von der Krimhalbinsel ostwärts bis zur russischen Grenze kontrolliert Russland bereits die gesamte ukrainische Küste am Asowschen Meer – bis auf Mariupol. Mit der Einnahme der Hafenstadt will der Präsident eine Landbrücke zwischen der besetzten Krim und den pro-russischen Separatistengebieten im Donbass schaffen.

Die russischen Truppen belagern Mariupol seit einem Monat und haben mit Artillerie- und Luftangriffen einen Großteil der Stadt mit ehemals 440.000 Einwohnern in Schutt und Asche gelegt, vollständig erobern konnten sie sie aber bislang nicht. Am Donnerstag meldeten die prorussischen Separatisten, sie hätten mithilfe russischer Einheiten weitgehend die Kontrolle über das Stadtzentrum von Mariupol erlangt, nun werde vor allem im Hafen sowie am Stahlwerk Asow-Stahl gekämpft. Man gehe von 3000 bis 3500 ukrainischen Kämpfern aus, welche die Stadt noch verteidigten. Die ukrainische Seite bestätigte diese Darstellung nicht. "Mariupol hält sich", sagte Selenskyjs Berater Olexeij Arestowytsch.
Westlich der Krim hatte Russland Cherson zunächst eingenommen, mittlerweile ist die Stadt aber wieder umkämpft. Auch die Stadt Mykolajiw ist noch unter ukrainischer Kontrolle und steht einem Angriff auf die Metropole Odessa auf dem Landweg weiter im Weg.
Die Taktik der russischen Streitkräfte
Nach Angaben ukrainischer und westlicher Behörden wollen die russischen Streitkräfte von Isjum bei Charkiw im Norden und von Mariupol im Süden aus vorrücken und so Zehntausende ukrainische Soldaten im Donbass einkesseln. Der ukrainische Militärexperte Oleh Schdanow sagte im ukrainischen Fernsehen zum Plan des russischen Aggressors: "Von Donezk und Luhansk und von Isjum bis Huljajpole versucht er, den Kreis um unsere Truppen zu schließen." Doch trennten beide Stoßgruppen weiterhin rund 250 Straßenkilometer.
Auch das ISW geht in einer Analyse davon aus, dass die russischen Truppen wahrscheinlich versuchen werden, von Isjum aus vorzustoßen, um Slowjansk einzunehmen und sich mit anderen russischen Streitkräften im Donbass zu verbinden, was sich "wahrscheinlich als die nächste entscheidende Schlacht des Krieges in der Ukraine erweisen wird".
Der Zeitplan für die Offensive dürfte auch davon abhängen, wie schnell die Russen die Schlacht um Mariupol beenden und diese Kräfte für die Offensive freimachen. Und davon, wie viel Zeit Russland braucht, um seine Truppen, die aus Kiew und anderen Gebieten im Norden abgezogen wurden, wieder neu zu formieren.
Eine Rückkehr der Russen in den Norden schließt Schdanow vorerst aus: "Sie haben keine Kräfte dafür." Alle verfügbaren Soldaten und die einsatzfähige Militärtechnik würden gerade in den Osten der Ukraine verlegt. "Wenn es im Osten nicht gelingt, dann wird es bereits keinen Sinn mehr machen, die verbliebenen Reste in die Nordukraine zu bringen", erklärte der Militärexperte. Sollten die Russen im Donbass Erfolg haben, würde sich wieder die Frage der Eroberung der ostukrainischen Metropole Charkiw und der Hauptstadt Kiew stellen.
Russlands Schwachstellen
Bei einer Offensive im Osten wird Putins Armee mit denselben Problemen konfrontiert sein, die ihren Vorstoß im Norden behindert haben. Die Aufrechterhaltung der Nachschublinien über große Entfernungen und unter ständigen ukrainischen Attacken war eine der größten Herausforderungen, die schließlich zum Scheitern des Angriffs auf Kiew und zum Rückzug Moskaus führten. Eine solche Operation im Osten könnte sich als ebenso schwierig erweisen.
Der fehlende Zusammenhalt zwischen den verschiedenen Streitkräften, das Versäumnis, die ukrainische Luftabwehr vollständig auszuschalten, und der wachsende Widerstand der Bevölkerung gegen die Invasion dürften auch im Osten schnelle russische Erfolge erschweren. Bei ihrem Versuch, die ukrainischen Truppen im Donbass einzukesseln, könnten die russischen Streitkräfte auch mit Angriffen an ihren Flanken konfrontiert werden.
Militärexperten sagen der Deutschen Presse-Agentur, dass die russischen Kräfte auch bei ihrem zweiten Versuch nicht mit einem schnellen Sieg rechnen sollten, allerdings womöglich weiter rücksichtlos auf Zivilisten und die Infrastruktur feuern würden.
Ein grundsätzliches Problem benannte der deutsche Brigadegeneral Christian Freuding, Leiter des Lagezentrums Ukraine im Verteidigungsministerium. Es habe eine "Überdehnung der russischen Kräfte" gegeben, sagte Freuding im Bundeswehr-Format "#nachgefragt". "Beim Angriff sprechen wir von einem Kräfteverhältnis eins zu drei, wenn der Angriff erfolgversprechend sein soll. Also ganz konkret: Wir bräuchten eine dreifache russische Überlegenheit gegenüber dem ukrainischen Verteidiger. Und wenn wir sogar in den Orts- und Häuserkampf gehen, gehen wir von Verhältnissen 1:8 bis 1:10 aus." Betrachte man aber die russischen und ukrainischen Kräfte unter diesem Blickwinkel, dann stimme für einen Sieg der Russen "das Kräfteverhältnis grundsätzlich nicht".
Mögliches Kriegsende
Ein militärischer Erfolg im Osten könnte Putin einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem Krieg bieten. Der Präsident könnte behaupten, er habe seine wichtigsten Ziele erreicht und argumentieren, dass Russland den Großteil des ukrainischen Militärs vernichtet, die "neonazistischen nationalistischen" Kräfte liquidiert und den Donbass "befreit" habe.
Zu Putins Friedensbedingungen gehört jedoch die Forderung, dass die Ukraine die Souveränität Russlands über die Krim und die Unabhängigkeit der östlichen Separatistenregionen anerkennt, was Selenskyj ablehnt. Der ukrainische Präsident hat sich lediglich bereiterklärt, die Fragen der Krim und des Donbass aufzuschieben. Der Donbass mit seinen großen Rohstoffvorkommen ist das industrielle Rückgrat der Ukraine. Sollte Putin die Region vollständig kontrollieren, wäre das wirtschaftlich ein schwerer Schlag für das Land und könnte es dauerhaft schwächen.
Zudem hat Selenskyj klargestellt, dass er über die Forderungen aus dem Kreml nach einer "Entmilitarisierung" und angeblich nötigen "Entnazifizierung" der Ukraine nicht reden werde. Die künftige ukrainische Armee werde so groß sein wie nötig, um das Land zu verteidigen, versicherte der Präsident.
Der Faktor Zeit
Die Zeit arbeitet gegen Putin, denn jeder Tag des Krieges verschlimmert den massiven wirtschaftlichen Schaden, den Russland durch die westlichen Sanktionen erleidet und zehrt an den begrenzten Ressourcen des Landes. Ein langwieriger Konflikt könnte die russische Armee zudem dazu zwingen, in größerem Umfang auf schlecht ausgebildete Wehrpflichtige zurückzugreifen. Bislang hat sie versucht, das zu vermeiden und behauptet, sie verlasse sich voll und ganz auf freiwillige Soldaten. Frische Wehrpflichtige in die Schlacht zu schicken, wäre höchst unpopulär und würde wahrscheinlich die Unzufriedenheit in der Bevölkerung schüren.

Eine wichtige Rolle für Putins Pläne könnte auch der 9. Mai spielen. An diesem Tag feiert Russland alljährlich mit landesweiten Militärparaden – die größte davon auf dem Roten Platz in Moskau – den Sieg über Hitlerdeutschland im Zweiten Weltkrieg. Trotz des Krieges gegen die Ukraine soll das auch in diesem Jahr so sein. "Das war und bleibt der heiligste Feiertag für alle Russen", verkündete Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag. "Wir werden ihn so feiern, wie wir ihn immer feiern."
Vielleicht will Putin ja bis dahin die Kämpfe gegen den Nachbarn beenden, um am 9. Mai vor den Mauern des Kreml vor die Truppen und das Volk zu treten und zu verkünden: Russland habe nach den Nazis aus Deutschland auch die angeblichen Neonazis in der Ukraine besiegt.
Quellen: Associated Press, CNN, Bundeswehr "#nachgefragt", DPA, AFP