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"Ich will leben" Tausende Russen sollen sich bereits bei ukrainischer Kapitulationshotline gemeldet haben

Ein Mann mit weißer Flagge in Irpin, Ukraine
Ein Mann mit weißer Flagge nahe Irpin, Ukraine (Symbolbild)
© Aris Messinis / AFP
Im September hat die Ukraine eine Hotline für russische Soldaten eingerichtet, die sich ergeben wollen. Seitdem haben sich angeblich tausende Russen gemeldet. 

"Muss ich auf die Knie gehen, wenn das ukrainische Militär kommt? Wie ergebe ich mich?", fragt ein Mann mit zitternder Stimme am Telefon. Er sei eingezogen worden und werde bald nach Cherson geschickt. Er sei Teil einer ganzen Gruppe, die sich ergeben wolle, aber man habe ihnen gesagt, sie könnten in der Ukraine für zehn Jahre ins Gefängnis kommen. "Wenn Sie sich freiwillig ergeben, werden sie als 'gefangen auf dem Schlachtfeld' registriert. Sie können Ihre Habseligkeiten behalten", erklärt eine Frau mit freundlicher Stimme. "Gibt es eine Garantie, dass ich nicht gefilmt werde? Und nicht geschlagen?"

Gespräche wie dieses, das der britische "Guardian" veröffentlicht hat, führen die Mitarbeiter eines Callcenters in der Ukraine laut eigenen Angaben derzeit dutzende Male täglich. Im September ging die Kapitulationhotline "Ich will leben" ans Netz. Hier können russische Soldaten anrufen, die sich ergeben wollen, weil sie nicht Teil des Angriffskriegs gegen das Nachbarland sein wollen. Die Hotline wurde als Reaktion auf Russlands Teilmobilmachung eingerichtet, bei der knapp 300.000 Russen eingezogen wurden. 

Angeblich hätten sich bereits mehr als 6500 russische Soldaten gemeldet, die vorhaben, zu desertieren, das berichtet das ukrainische Amt für Kriegsgefangene. Unabhängig überprüfen lässt sich diese Zahl jedoch nicht.

Kapitulationshotline: Tausende Russen wollen sich laut Ukraine ergeben

Vitaly Matvienko, Sprecher des Amtes für Kriegsgefangene, erklärt, dass die Personen, die über den Dienst Kontakt aufgenommen hätten, anhand ihrer persönlichen Daten und ihrer Dienstnummer als Angehörige der russischen Streitkräfte überprüft würden, das berichtet unter anderem der "Guardian". 

Um sich zu ergeben, seien zwei Stufen der Kapitulation nötig. "Die erste Stufe ist, dass russische Soldaten, die mobilisiert, teilmobilisiert oder noch nicht mobilisiert sind, bei dieser Hotline anrufen und sagen: 'Ich will mich ergeben'", so Matvienko. "Danach muss er seine persönlichen Daten hinterlassen. Wenn der Soldat dann ukrainisches Territorium betritt, muss er erneut anrufen und sagen: 'Ich will mich ergeben'. Dann helfen ihm Mitarbeiter, einen sicheren Ort zu erreichen, wo er auf ukrainische Spezialkräfte trifft." 

Wer sich für das Angebot interessiert und warum, sei sehr unterschiedlich. "Während der Befreiung von Cherson erhielten wir Anrufe von Russen, die sagten: 'Retten Sie einfach unsere Seelen. Wir stecken hier irgendwo im Schlamm, unser Bataillon ist völlig zerschlagen, wir haben nur noch zehn Mann. Bitte holen Sie uns aus dieser Scheiße heraus'", so der Amtssprecher.

Eine Callcenter-Mitarbeiterin erklärte, jeder Fall sei unterschiedlich, aber sie habe die Hoffnung, dass die Kriegsbemühungen Russlands allmählich schwächer würden. Die Anrufe kämen in verschiedenen Situationen – manche Soldaten seien bereits auf dem Schlachtfeld, andere noch in ihren Heimatstädten mit der Angst, bald eingezogen zu werden. Eines aber eine sie alle: "Sie haben Angst und wissen nicht, was sie tun sollen."

"Ich will leben" ist Teil des Informationskrieges

Wie erfolgreich die Hotline tatsächlich ist, lässt sich nicht unabhängig prüfen, ebensowenig wie die angeblich Tausenden russischen Soldaten, die sich bereits gemeldet haben sollen, um sich zu ergeben. Unter den Truppen scheint die Hotline allerdings durchaus bekannt. Wie der "Guardian" berichtet, habe die Propaganda-Website von "Ich will leben" allein im Dezember knapp zwei Millionen Besuche verzeichnet – 1,6 Millionen davon aus Russland. Laut BBC offenbar genug, dass die russische Regierung versucht, sie zu sperren. Ebenso wie die Hotline selbst. Teilweise soll sie über russische Sim-Karten nicht erreichbar sein. 

So karitativ das Angebot auch scheint – "Ich will leben" ist Teil des Informationskrieges der Ukraine. Sollte die Hotline tatsächlich so erfolgreich sein, wie die ukrainischen Behörden angeben, sie ist keineswegs ein Zugeständnis an die russischen Streitkräfte. Viel mehr ist sie ein weiterer Versuch, die Moral der Truppe zu brechen. Zudem sind Kriegsgefangene für beide Parteien zu einer wichtigen Währung geworden, um die eigenen Soldaten nach Hause zu holen und sie vielleicht sogar wieder ins Gefecht zu schicken. 

Insbesondere Russland hat in den vergangenen Monaten immer wieder die Bereitschaft gezeigt, Gefangene auszutauschen. Das renommierte "Institute for Study of the War" sieht darin vor allem ein Versuch, die steigende Unzufriedenheit in der russischen Bevölkerung zu besänftigen. Insgesamt 1646 ukrainische Mitarbeiter wurden von der russischen Regierung im Rahmen eines solchen Austauschs freigelassen, so Matwijenko. Die jüngste Vereinbarung wurde am 8. Januar abgeschlossen, als 50 Personen auf beiden Seiten ausgetauscht wurden. Verhandlungen über weitere Personen dauern an.

Quellen: The Guardian, BBC, Der Spiegel,Homepage "Ich will leben"

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