"Martial Law". Auf englisch klingt Moskaus jüngste Eskalationsstufe noch einmal bedrohlicher. Auf deutsch bedeutet das: Russland hat das Kriegsrecht ausgerufen – zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg. Zumindest für die vier annektierten Gebiete im Osten der Ukraine. Doch kommt es auf die juristischen Feinheiten an. Kriegszustand bedeutet nicht gleich Krieg. Denn von dem ist im Kreml weiterhin nicht die Rede.
Das Gesetz, auf das sich der Kremlchef Putin am Mittwoch berief, ist rund 20 Jahre alt und wurde noch nie zuvor angewandt. Es sei ausschließlich für den Fall vorgesehen, da sich Russland "einer Aggression oder der 'unmittelbaren Gefahr einer Aggression' ausgesetzt sieht", so die Nachrichtenagentur Reuters.
Doch nicht nur in den annektierten Regionen weitet der Kreml seine Macht aus. Ein zweites vom Oberbefehlshaber unterzeichnetes Dekret garantiert dem Regime auch im eigenen Land weitreichendere Befugnisse. Kurzum: Der Kreml schaltet sukzessive auf Krisenmodus.
Welche Auswirkungen das Kriegsrecht auf die annektierten Gebiete in der Ukraine hat
"Das Kriegsrecht bedeutet im Wesentlichen die Aussetzung der normalen Verwaltung der Wirtschaft und der Rechtsstaatlichkeit", so Max Bergmann vom Center for Strategic and International Studies gegenüber der "Washington Post".
Aus Sicht des Kreml gehören die Gebiete Luhansk, Cherson, Saporischschja und Donezk unwiderruflich Russland. Allerdings kontrollieren die Besatzer die Regionen nicht annähernd vollständig – was Moskau allerdings nicht davon abhält, den Kriegszustand für deren gesamtes Territorium zu verhängen. Das zeigt erneut: Die Macht, die Moskau zur Schau stellt, ist eher vorgetäuscht denn real.
Dennoch dürften die Menschen in den besetzten Gebieten am Donnerstag in einer neuen, noch weitaus repressiveren Welt aufgewacht sein:
- Mobilisierung: Mit Inkrafttreten des Kriegszustandes behält sich der Kreml automatisch eine General- oder zumindest neue Teilmobilisierung vor. Für erstere müsste sich der Kreml allerdings endgültig von seinem Begriff "militärische Spezialoperationen" verabschieden und letztlich sein eigenes Versagen öffentlich einräumen. Da die Teilmobilmachung nach Angaben aus Moskau inzwischen abgeschlossen ist (Putin zwingt insgesamt mehr als 200.000 weitere Russen zum Angriff auf das Nachbarland) und bereits auf die besetzten Gebiete ausgeweitet wurde, ist diese Maßnahme zumindest bis auf weiteres unwahrscheinlich. Unwahrscheinlich, ja, aber eben nicht unmöglich. Im Endeffekt bedeutet dies, dass Ukrainer gezwungen werden könnten, gegen ihre eigenen Landsleute ins Feld zu ziehen. Maßnahmen zur "Deckung des Bedarfs der russischen Streitkräfte" und "territoriale Verteidigung", so wird dieses Horrorszenario im Erlass umschrieben. Tatsächlich verstößt es gegen die Genfer Konvention, Zivilisten zum Beitritt zu Streitkräften der Besatzungsmacht zu zwingen. Nur verkauft sich der Kreml bekanntermaßen nicht als Besatzer, sondern als rechtmäßige Regierung.
- Einschränkungen für die Bewohner: Zudem erlaubt es das Dekret den Besatzern nun ganz offiziell, massiv in die Freiheit der Bevölkerung einzugreifen. Dem russischen Menschenrechtsanwalt Pawel Tschikow zufolge sehen die neuen Gesetze nicht nur das Einrichten von Kontrollpunkten und Durchführen von Fahrzeugkontrollen vor. Menschen können bis 30 Tage inhaftiert, Ausgangssperren verhängt, Privateigentum beschlagnahmt werden. Auch könnten die Besatzer die Bevölkerung zum Wiederaufbau zerstörter Gebäude oder gar zur Arbeit in der Rüstungsindustrie zwingen. Auch der Verkauf bestimmter Güter darf eingeschränkt oder verboten werden.
- Zwangsumsiedlung: Auch die Deportation von Menschen sei nun theoretisch möglich, so Tschikow. Bereits am Mittwoch hatte Wladimir Saldo, der vom Kreml eingesetzte Verwalter der Region Cherson, angekündigt, bis zu 60.000 Menschen aus der Region Cherson zu "evakuieren" und die Verwaltung auf die andere Seite des Flusses Dnipro zu verlegen. In Kiew bezeichnete man das als "Propaganda". "Eine ziemlich primitive Taktik, wenn man bedenkt, dass die ukrainischen Streitkräfte nicht auf ukrainische Städte schießen, das tun ausschließlich russische Terroristen", schrieb der Chef des ukrainischen Präsidentenbüros, Andrij Jermakin seinem Telegram-Kanal. Die USA warfen Russland bereits im September vor, zwischen 900.000 und 1,6 Millionen Ukrainer zwangsumgesiedelt zu haben. Menschenrechtsgruppen hatten mehrfach behauptet, dass Russland die deportierten ukrainischen Kinder gewaltsam assimiliert.
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Schritt für Schritt: Putin versetzt ganz Russland in Kriegsmodus
Die restriktiven Maßnahmen gelten allerdings nicht nur für die annektierten Gebiete in der Ukraine. "Darüber hinaus halte ich es in der gegenwärtigen Situation für notwendig, den Führern aller russischen Regionen zusätzliche Befugnisse zu übertragen", sagte Putin in einer Sitzung seines Sicherheitsrates. Für 26 Regionen, darunter auch für Moskau, gelten fortan unterschiedliche "Reaktionsstufen". Konkret bedeutet das: Der Kriegszustand gilt für ganz Russland – wenn auch in "abgeschwächter" Form.
Laut NYT geht es dem Kreml darum, die russische Wirtschaft sukzessive in den Kriegsmodus zu versetzen. Lokale Behörden auf der Krim und in den Grenzgebieten Krasnodar, Belgorod, Brjansk, Woronesch, Kursk und Rostow dürfen laut Dekret "die Wirtschaft mobilisieren, um den Bedarf der Armee zu decken". "Putin muss das Land auf viel härtere Zeiten vorbereiten und Ressourcen mobilisieren", sagte die russische Politikanalystin Tatjana Stanowaja gegenüber der US-Zeitung.
Zwar seien die Beschränkungen im übrigen Russland nicht mit dem Kriegszustand gleichzusetzen. Dennoch kann Putins Dekret unter anderem dazu genutzt werden, um Aktivitäten von Parteien, öffentlichen Organisationen (zum Beispiel Gewerkschaften) und religiösen Gruppen komplett auszusetzen. Außerdem, so berichtet die NYT, haben die Gouverneure nun die Befugnis, Ein- und Ausreisebeschränkungen zu erlassen. Die Maßnahmen reichen so weit, dass man sich in Moskau offenbar zur provisorischen Beschwichtigung genötigt sah. Kremlsprecher Dmitri Peskow trat Befürchtungen entgegen, Russland werde jetzt seine Grenzen für die eigenen Bürger schließen. Das sei nicht geplant, sagte er der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Nowosti. Auch Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin betonte, das Kriegsrecht in den vier annektierten Gebieten werde das Alltagsleben der Hauptstädter "derzeit" nicht beeinflussen.
"Im Allgemeinen sieht das alles weniger nach einem Kampf mit einem äußeren Feind aus als vielmehr nach einem Versuch, die heranreifende Revolution innerhalb des Landes zu verhindern", schrieb Abbas Gallyamov, ein ehemaliger Redenschreiber des Kremls im Exil, laut "Washington Post" auf Telegram.
"Was wir sehen, ist eine Art 'kochender Frosch'-Strategie, bei der man nicht jeden großen Schritt ankündigt, der die russische Öffentlichkeit vielleicht überwältigen würde, sondern die Idee ist, diese Schritte schrittweise einzuführen", erklärt Experte Bergmann der US-Zeitung.
Quellen: Reuters; "New York Times"; "Washington Post", dpa