Im britischen Unterhaus geht es normalerweise turbulent zu. Nicht selten muss der Sprecher aufspringen und laut "Order!" rufen, um die streitlustigen Abgeordneten zu beruhigen. Am Dienstagabend jedoch hätte man, trotz des vollgepackten Saals, eine Stecknadel fallen hören können. Alle Augen waren auf einen Videobildschirm gerichtet, über den sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj direkt an die Versammelten wandte.
Für die Ukraine gehe es nun um die Frage "Sein oder nicht sein", so Selenskyj angelehnt an Shakespeare. Angesichts des tapferen Widerstands seiner Landsleute könne es nur eine Antwort darauf geben. "Sie lautet definitiv: sein". "Wir werden bis zum Ende kämpfen, auf See, in der Luft", fuhr der Präsident fort. "Wir werden weiter für unser Land kämpfen, koste es, was es wolle, in den Wäldern, auf den Feldern, an den Ufern, auf den Straßen." Mit ähnlichen Worten hatte bereits 1940 Winston Churchill sein Land auf die Verteidigung gegen Nazi-Deutschland eingeschworen.
Niemals zuvor habe das Unterhaus einer solchen Ansprache zugehört, sagte der britische Premier Boris Johnson nach Selenskyjs Rede. Minutenlanger Applaus hallte durch das Unterhaus, alle Abgeordneten hatten sich von ihren Plätzen erhoben.
Briten spielen im Ukraine-Krieg entscheidende Rolle
Es ist wohl kein Zufall, dass Selenskyj für seine erste Ansprache vor einem nationalen Parlament ausgerechnet London ausgewählt hat. Das Vereinigte Königreich nimmt laut Experten eine wichtige Rolle im strategischen Umgang mit dem Krieg in der Ukraine ein – auch wegen seiner Atomwaffen.
Im Gegensatz zu Ländern wie Deutschland war man dort über die russische Invasion in der Ukraine weniger überrascht. Durch die eigene Nähe zu den USA stehen britische Politik und Medien dem Kreml schon seit Jahren skeptisch gegenüber. Zudem haben die auf britischem Boden mutmaßlich durch den Kreml verübten Giftanschläge auf russische Ex-Agenten – Alexander Litwinenko (2006) und Sergej Skripal (2018) – die Beziehungen weiter verschlechtert.
So war es Großbritannien, das neben den USA, frühzeitig auf die russische Bedrohung aufmerksam gemacht hatte. Inmitten der zunehmenden Spannungen lieferten die Briten bereits Anfang Januar Waffen an die Ukraine, unter anderem wichtige Panzerabwehrwaffen im Wert von 80 Millionen Euro. Zudem werden die ukrainischen Soldaten seit Jahren vom britischen Militär ausgebildet und geschult. Dessen ist man sich auch in Kiew bewusst. Die Briten werden hinsichtlich ihrer militärischen Unterstützung als die engsten und verlässlichsten Verbündete gesehen.
In seiner Rede bedankte sich Selenskyj ausdrücklich bei "seinem Freund Boris", mit dem er derzeit fast täglich telefonieren soll. Er sei für die britische Unterstützung im Krieg dankbar, die viel eher begonnen habe, als die der Europäischen Union.
Neue Brücken zwischen EU und Großbritannien
Gleichzeitig hat der Krieg in der Ukraine etwas bewegt, was in die letzten Jahre unvorstellbar geworden war. Die wohl seit Jahrzehnten größte sicherheitspolitische Bedrohung für den europäischen Kontinent hat die EU und Großbritannien wieder an einen Tisch gebracht. Am vergangenen Freitag lud die EU die britische Außenministerin Liz Truss zur Teilnahme an einem Treffen der europäischen Außenminister ein – eine Premiere seit dem Brexit.
Seit das Königreich vor knapp sechs Jahren für den Austritt aus dem Bündnis gestimmt hatte, waren die Gräben zwischen Brüssel und London gewachsen. Endlose Debatten um Fischereirechte, mangelnde Kommunikation und gegenseitiges Misstrauen hatten die Beziehungen deutlich abgekühlt. Doch angesichts des gemeinsamen Aggressors dämmert es wohl selbst dem hartgesottensten Brexit-Befürworter, dass Moskau eine größere Bedrohung als Brüssel darstellt und auch die größten Kritiker in Europa wissen, dass Sanktionen gegen Russland mit Großbritannien an Bord besser funktionieren, als ohne.
Bei ihrer Ankunft in Brüssel erklärte Truss, es sei nun "von entscheidender Bedeutung", dass das Vereinigte Königreich und seine Verbündeten in ihrer Reaktion auf Russlands Militäraktion "vollkommene Einheit zeigen". Zwar nannte sie die EU nicht explizit beim Namen, doch die Botschaft war ohne jeden Zweifel: Großbritannien und die EU wieder Seite an Seite.
"Die EU und die Briten betrachten das Gesamtbild und unsere grundlegenden Interessen und sehen ein beträchtliches Maß an Übereinstimmung", sagt Sophia Gaston, Direktorin des Forschungsinstitutes British Foreign Policy Group. "Die russische Invasion ist eine tiefgreifende Bedrohung für die Europäer, eine Herausforderung, der sich der Westen gemeinsam stellen muss."
Boris Johnson profitiert von Krise
Mit der russischen Invasion in der Ukraine hat sich auch das innenpolitische Blatt für Boris Johnson gewendet. Noch vor wenigen Wochen hielt der britische Premier seinen politischen Kopf nur mit Mühe und Not über Wasser. Die Tageszeitungen waren voll mit Berichten über Lockdown-Partys in der Downing Street 10, die Rücktrittsrufe – auch aus den eigenen Reihen – wurden lauter.
Seit Kriegsbeginn vor zwei Wochen sind die Skandal-Schlagzeilen verschwunden. Stattdessen gibt es immer mehr Lob für Johnson, der seine Zeit mit Telefonaten mit den westlichen Partnern verbringt und sich den harten Sanktionen gegen Russland angeschlossen hat.
Dabei läuft längst nicht alles rund. In den letzten Tagen gerät die britische Regierung wegen ihrer Zurückhaltung bei der Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge immer stärker in die Kritik. Bislang hat das Land gerade einmal 300 Menschen aufgenommen, insgesamt gibt es 17.700 offene Visa-Anträge von Familienangehörigen. Verteidigungsminister Ben Wallace räumte am Dienstag in einem BBC-Interview ein: "Wir können und werden mehr tun".
Dennoch ist auffällig, dass selbst die Opposition – die noch kürzlich den Rücktritt des Premiers forderte – nun sanftere Töne anschlägt. Auch für die überwiegende Mehrheit der Tories ist im Moment nicht die Zeit für einen Führungswechsel. Dazu heißt es in einem BBC-Bericht: "Die Sorgen um die Führung von Boris Johnson in seiner eigenen Partei sind vorerst nicht mehr aktuell, aber nicht vergessen."