Der Sicherheitsexperte Christian Mölling hat der russischen Führung vorgehalten, dass sie beim Rückzug aus der Region Cherson viele tausend eigene Soldaten im Stich lasse. Der Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sagte am Freitag im stern-Podcast "Ukraine – die Lage", die Russen hätten ihre gut ausgebildeten und gut ausgerüsteten Verbände schon lange aus der Stadt abgezogen.
Zurückgeblieben sei am Westufer des Dnipro, dessen Räumung Russland angekündigt hat, eine schwer zu schätzende Zahl von schlecht ausgerüsteten und ausgebildeten Soldaten, von denen viele womöglich erst vor kurzem eingezogen worden seien. Es könnten 20.000 oder mehr sein. Sie würden den ukrainischen Vormarsch allein schon durch ihre Präsenz verlangsamen und auch dadurch, dass ihre Gefangennahme Kräfte binde. In diesem zynischen Kalkül sicherten sie den Abzug anderer Soldaten ab. Die Zurückgebliebenen würden "im Grunde genommen als Kanonenfutter noch dableiben".
Cherson "keine lebenswerte Stadt mehr"
Mölling sagte weiter, die "Rückeroberung der Stadt wird noch sehr lange dauern, weil man sehr vorsichtig vorgehen muss und wahrscheinlich unter Dauerfeuer liegt". Überall drohten Minen und Sprengfallen; außerdem bleibe Cherson in Reichweite russischer Artillerie auf der anderen Seite des Dnipro. "Es wird keine lebenswerte Stadt mehr sein, in die jemand zurückkehren kann", erwartet der Experte.
Rückzug der Russen bestätigt ukrainischen Kurs
Der russische Rückzug aus Cherson bestätigt aus Sicht Möllings den ukrainischen Kurs, nicht mit Wladimir Putins Regime zu verhandeln. Hätte die Ukraine Verhandlungen zugestimmt, stünde sie jetzt nicht vor der Übernahme der Kontrolle in der wichtigen Großstadt. "Das wäre Verhandlungsmasse gewesen, jetzt ist es nicht mehr Verhandlungsmasse", sagte Mölling. "Aus der ukrainischen Sicht geht es darum, auch die nächsten Sachen vom Verhandlungstisch zu nehmen."
Mölling warnte davor, nach den neuen Gebietsgewinnen der Ukraine den Druck zu erhöhen, dass sie jetzt einen Waffenstillstand anstreben müsse. In diesem Zusammenhang kritisierte er auch das Verhalten hoher westlicher Militärs, die eine schnelle Beendigung der Kämpfe anstrebten. Militärische Berater hätten auch ein Eigeninteresse, erklärte er. Und weiter: "Die haben möglicherweise nicht das Interesse daran, noch mehr von ihrem Material zu verlieren, sondern möchten ganz gerne, dass dieses ständige Abgeben von Material aufhört. Auch diese Diskussion haben wir – halboffen zumindest – auch in Deutschland gehabt."