Ukraine-Krise Historiker widerspricht Putin: Warum Russen und Ukrainer keine "historische Einheit" sind

Ukraine - Tag der Einheit in Kiew
Die russische Bedrohung hat die Ukrainer zusammengeschweißt: Demonstration zum "Tag der Einheit" in Kiew am 16. Februar.
© Vadim Ghirda / AP / DPA
Wladimir Putin beschwört eine "historische Einheit" von Russland und der Ukraine. Der Historiker Serhy Yekelchyk widerspricht. Die Geschichte sei viel komplizierter. Die heutige Distanz habe sich Putin selber zuzuschreiben

Wer in der jüngeren Geschichte kramt, findet scheinbar schnell eine Bestätigung für die Ansicht Wladimir Putins, dass Russland und die Ukraine eine "historische Einheit" bilden. Der russische Präsident schrieb darüber im Juli vergangenen Jahres einen Aufsatz, der nun von politischen Beobachtern vielfach als Rechtfertigung des Aufmarschs russischer Truppen an den Grenzen des Nachbarlandes gelesen wird. Fast 70 Jahre war der von Kiew aus regierte Bundesstaat ein Bestandteil der Sowjetunion – bis die UdSSR mit dem Ende des Kalten Krieges zu Beginn der 1990er-Jahre auseinanderbrach. Hat Putin also Recht, wenn er die Einheit beider Staaten beschwört und auch deshalb einen denkbaren Beitritt der Ukraine zur Nato als Legitimation für eine Konfrontation nimmt?

Der ukrainisch-kanadische Historiker Serhy Yekelchyk nennt die Vorstellung, die Ukraine sei schon immer ein Teil Russlands gewesen "Putins Wahn". Auch wenn viele Russen die Ansicht ihres Präsidenten teilten, "die Wahrheit ist viel komplizierter", schreibt der Professor für Slawistik an der University of Victoria in Kanada in einem ausführlichen Gastbeitrag für das US-Politportal "Politico". So kompliziert, dass auch Putin sich nicht einfach auf die sowjetische Episode beziehen kann, um die Einheit beider Staaten zu beschwören. Denn: "Die Sowjets erkannten die Ukrainer als eigenständige ethnische Nation mit eigener Sprache und dem (theoretischen) Recht auf Selbstbestimmung an", schreibt Yekelchyk. In der Praxis habe dies bedeutet, dass eine ukrainische Republik innerhalb der Sowjetunion zugebilligt wurde. Daher müsse Putin für seine Argumentation schon auf zaristische Zeiten zurückgreifen, denn "im Gegensatz zu den Sowjets betrachteten die russischen Zaren die Ukrainer als Teil der russischen Nation (...) und ihre Sprache als bloßen regionalen Dialekt", so Yekelchyk.

Wladimir Putin schließt sich Sichtweise der Zaren an

Dem Historiker zufolge gibt es noch einen weiteren Punkt, durch den die Zaren Putin als Vorbild dienen können. Die historischen russischen Herrscher glaubten, "dass der Westen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder versucht habe, die russisch-ukrainische Einheit zu untergraben." Das liefere dem aktuellen russischen Präsidenten den Grund, die Nato und die Europäische Union als jene zu sehen, die die althergebrachten Bestrebungen westlicher Kräfte fortführten – mit dem ukrainischen Präsidenten Wlodymyr Selenskyj als willfährigen Helfer.

Doch wer die Ursprünge der ukrainisch-russischen Beziehungen verstehen will, der muss laut Yekelchyk weit vor die Zaren-Zeit zurück gehen – bis ins 9. Jahrhundert. Damals habe eine Gruppe Wikinger, die sich "Rus" beziehungsweise "Roos" nannten, die Kontrolle über die Volksgruppe der Slawen erlangt, die seinerzeit die Zentralukraine und den Nordwesten Russlands besiedelten. Kiew machten die Rus zu ihrer Hauptstadt. Ein Moskau habe es zu dieser Zeit noch gar nicht gegeben. Die heutige russische Millionenmetropole sei erst rund 200 Jahre später entstanden, als Walddorf an der fernen Grenzen des mittelalterlichen Rus-Reiches. Ein Reich, mit dem sich die dort lebenden Slawen mit der Zeit identifizierten und sich schließlich Rusnys nannten, so der Historiker. Im Südwesten der Ukraine habe diese Bezeichnung bis ins 20. Jahrhundert überlebt. Auch das diene Interessierten als Beleg für eine angebliche Einheit.

Gemeinsames historisches Erbe

Wenn man so will, begann die ukrainische Geschichte also deutlich vor der russischen. Doch richtig ist auch, so Yekelchyk: "Heute beanspruchen die drei ostslawischen Nationen Ukraine, Belarus und Russland die Kiew-Rus als ihr Erbe, obwohl das alte Kernland der Rus und seine Hauptstadt Kiew zur modernen Ukraine gehören." Genau dies sieht der Historiker auch als kritischen Punkt für die aktuelle Lage: "Es ist beunruhigend für ein ehemaliges Imperium wie Russland zu erkennen, dass das, was es als seine mittelalterliche Hauptstadt und den Sitz seiner ersten Dynastie betrachtet, jetzt 'im Ausland' liegt". Dennoch: "So wie die mittelalterlichen Franken zur Zeit Karls des Großen weder Franzosen noch Deutsche waren, wäre es irreführend, den Rusyns eine moderne ethnische Bezeichnung zu geben", zieht Yekelchyk in seiner Betrachtung eine Parallele zur mitteleuropäischen Geschichte.

Wirklich Zugriff bekam Russland laut der Darstellung des Slawistik-Professors erst nach Jahrhunderten wechselvoller Geschichte, als die ukrainischen Kosaken den russischen Zaren um "Schutz" gegen Polen baten. Auch wenn über den Charakter der Schutz-Vereinbarung von 1654 ein Historiker-Streit anhält: Die Kosaken verstanden den Pakt wohl als gegenseitiges Bündnis, die Russen jedoch eher als Unterwerfung. Allerdings vollendete erst Kaiserin Katharina die Große mehr als ein weiteres Jahrhundert später die Unterwerfung, dokumentiert durch eine Medaille von 1793, deren Inschrift ("Was weggerissen wurde, habe ich wiederhergestellt") die Erzählung einer Zugehörigkeit der Ukraine zu Russland festhielt.

1919: Kurzlebige Ukrainische Volksrepublik

Doch auch das hatte keinen Bestand. Wie Yekelchyk weiter beschreibt, hatten die Ideen der amerikanischen und französischen Revolution sowie der deutschen Philosophen der Romantik großen Einfluss auf die Ukraine – zum Missfallen Russlands, das sich mit den modernen Ideen schwer getan habe. Es entwickelte sich ein ukrainischer Nationalismus, der nach dem Ersten Weltkrieg schließlich 1919 zu einer sehr kurzlebigen Ukrainischen Volksrepublik führte. "Egal, wie kurz", so der Historiker weiter, diese Republik habe gezeigt, dass jede "Sammlung" historischer Rus-Länder "nur von der Position aus stattfinden konnte, die Existenz einer modernen ukrainischen Nation anzuerkennen." Und "tatsächlich fühlten sich die Bolschewiki [die mit der Oktoberrevolution 1917 die Macht in Russland erlangt hatten, Anm. d. Red.] verpflichtet, eine ukrainische Marionetten-Sowjetrepublik zu gründen, die 1922 einer der Gründer der Sowjetunion war."

Womöglich hätten die Sowjets die ukrainische nationale Identität für immer auslöschen können, doch das haben sie, so das Urteil des Historikers, "versäumt" und im Gegenteil – wie schon beschrieben – der Ukraine eine eigenständige ethnische Identität zugebilligt. Das führte dazu, dass das "Grenzland", so die wörtliche Bedeutung, zum Ende der Sowjetunion sehr schnell den baltischen Staaten in die Unabhängigkeit folgte. Die politischen Entwicklungen in den 1990er-Jahren ließen sie die Hoffnung zu, dass Russland und die Ukraine "gemeinsam von einer demokratischen und prosperierenden Zukunft als Nachbarn träumen" konnten. Das ging lange gut, nun könnte sich diese Hoffnung zerschlagen.

Gemeinsame Wurzeln, eigenständige Entwicklung

Folgt man Yekelchyks Blick in die Geschichte wird deutlich: Trotz gemeinsamer Wurzeln war die Ukraine über lange Perioden autonom oder genoss aus historischen Gründen zumindest eine Sonderstellung. Eine "historische Einheit" bildeten Russen und Ukrainer demnach in erster Linie in den Zeiten, in denen Russland die Herrschaft über den Nachbarn an sich gezogen hatte. Und so stellt sich die Situation nach Lesart des ukrainisch-kanadischen Wissenschaftlers auch jetzt dar: "Putins historischer Artikel aus dem letzten Sommer ist im Wesentlichen ein Statement unerwiderter Liebe und verdeutlicht Russlands Kernproblem gegenüber der Ukraine: Es versteht sich nicht als Nation, sondern als Imperium", so Yekelchyk. Die separate ethnische Identität der Ukraine stelle Russlands Selbstverständnis als Imperium in Frage, urteilt der Historiker, und die politische Identität der Ukraine widerspreche Putins autoritärem politischen Modell.

Nach 30 Jahren Unabhängigkeit und zwei Volksrevolutionen gegen "das politische Modell, das Putins Russland am besten repräsentiert", könnten sich immer weniger Ukrainer:innen vorstellen, im autoritären Russland zu leben. Durch die Annektierung der Krim – wenngleich diese erst zu Sowjetzeiten dem Land zugeordnet wurde – sei die Zahl der Putin-Anhänger in der Ukraine nochmal deutlich zurückgegangen. Putins Versuche, die Ukraine an sich zu ziehen, hätten vielmehr dazu geführt, dass sich das Land von Russland nur noch mehr distanziert habe.

Russland: Ohne die Ukraine kein Imperium

Eine eigenständige und erfolgreiche Ukraine sei es, was Putin heute fürchte. Serhy Yekelchyk: "Wenn der Westen beim Aufbau einer demokratischen und wohlhabenden Ukraine hilft, kann seine bloße Existenz eines Tages ein demokratisches Russland hervorbringen." 

Eine weitreichende Einschätzung, mit der Yekelchyk aber nicht alleine ist. "Die Ukraine ist der größte Horror und die größte Leidenschaft Putins", schrieben die ukrainische Oppositionspolitikerin Ivanna Klympush-Tsintsadze (Partei "Europäische Solidarität") und Oleksandr Merezhko, Abgeordneter der Regierungspartei "Diener des Volkes", in der Wochenzeitung "Die Zeit". "Ein Horror, weil eine demokratische und wohlhabende Ukraine die schärfste Bedrohung seines Regimes ist. Eine Leidenschaft, weil – um den großen Analytiker des Kalten Krieges, Zbigniew Brzeziński, zu zitieren – 'ohne die Ukraine Russland aufhört, ein Imperium zu sein, mit einer unterwürfigen oder gar unterworfenen Ukraine jedoch Russland automatisch ein Imperium wird'".

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