Gefangen im eigenen Haus "Ich habe mich von meiner Tochter verabschiedet": Ukrainer berichten von Geiselnahme durch russische Soldaten

Hostomel, Ukraine. Russische Soldaten nehmen ein Wohnhaus in Hostomel nahe Kiew ein
Hostomel, Ukraine. Eine Sicherheitskamera zeigt, wie russische Soldaten ein Wohnhaus nahe Kiew einnehmen.
© Screenshot NY Times
Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto mehr Wohngebäude fallen in die Hände russischer Soldaten. Oft werden die Bewohner als Geiseln gehalten. Einige, die fliehen konnten, schildern in der "New York Times", wie es sich anfühlt, im eigenen Haus gefangen zu sein.

"Es war wirklich beängstigend", berichtet Lesya Borodyuk der "New York Times". Die 49-jährige Ukrainerin kommt aus der Kleinstadt Hostomel, rund 16 Kilometer nordwestlich von Kiew. Seit Beginn des Krieges rücken russische Truppen immer dichter an die ukrainische Hauptstadt heran. Täglich treffen Raketen zivile Einrichtungen und Wohnanlagen und hinterlassen Tod und Trümmer. Seit dem 24. Februar – dem ersten Tag des Angriffskrieges – sind laut Kiews Bürgermeisters Vitali Klitschko allein in der Hauptstadt "65 friedliche Einwohner" bei Luftangriffen getötet worden.

Am 3. März trifft es den Wohnkomplex Pokrovsky in Hostomel. Mehr als 150 Familien leben zu diesem Zeitpunkt in den 14 Gebäuden der Anlage – darunter auch Lesya Borodyuk. "Ich habe meiner Tochter geschrieben. Ich habe mich von ihr verabschiedet. Ich habe ihr gesagt, dass wir jetzt wahrscheinlich bombardiert werden", erzählt sie der US-Zeitung unter Tränen.

Geiselnahme in der Ukraine: Handys weg und ab in den Keller

Innerhalb von wenigen Stunden haben die russischen Soldaten den gesamten Komplex eingenommen. Sie nehmen rund 200 Einwohner als Geisel, zwingen die meisten in die Keller zu gehen und besetzen deren Wohnungen.

"Menschen wurden aus ihren Wohnungen geworfen", erzählt Elena Anischtschenko, eine weitere Bewohnerin, der "NY Times". Sie selbst wollte an jenem Tag mit Nachbarn ihren 33. Geburtstag feiern. "Sie haben niemanden etwas gefragt, sie haben nur gesagt, wir sollen in den Keller gehen." Die Soldaten beschlagnahmen Handys und Laptops oder zerstören sie. "Sie sagten zu uns: 'Sei nicht böse auf uns, aber wenn wir dein Handy finden, wirst du auf der Stelle erschossen'", erinnert sich Anischtschenko.

Unten im Keller haben die russischen Wachen das Sagen. Einige sind lockerer als andere. Borodyuk und andere dürfen in ihre Wohnungen gehen, um Essen und warme Kleidung zu holen. Die Nachbarn können zusammen kochen und miteinander reden. Die Soldaten, die den Keller von Anischtschenko bewachen, sind strenger. Sie erlauben nur kurze, beaufsichtigte Besuche in den Wohnungen, um Lebensmittel und Vorräte für alle zu besorgen. "Die Leute gerieten in Panik", sagt Anishchenko, "alle hatten ihre Belastungsgrenze überschritten."

Die russischen Soldaten erzählen den Gefangenen, dass die Ukraine bald befreit werde. Borodyuk erinnert sich an einen älteren russischen Offizier, der versucht, ein Mädchen im Keller zu trösten. "Er sagte: 'Meine Tochter ist auch acht Jahre alt. Ich liebe sie sehr. Ich vermisse sie. Keine Angst, kleines Mädchen, wir befreien dich von den Nazis.'"

Schlafen mit Jacke, kochen ohne Strom

Einige Bewohner, wie Ksenia, dürfen in ihren Wohnungen bleiben – vielleicht, weil sie ein Kind hat. "Wir haben vier Jahre auf diese Wohnung gewartet", berichtet die Mutter, die ihren Nachnamen lieber nicht verraten möchte. "Wir haben in die Renovierung investiert. Aber auch das spielt jetzt keine Rolle mehr." Für sie geht es nur darum, genug Essen zu besorgen, um ihre Kinder zu ernähren und bis zum nächsten Morgen zu überleben.

Andere bleiben von den russischen Soldaten unbemerkt. Roman Naumenko und seine Frau verstecken sich im siebten Stock ihres Gebäudes. Die Luftangriffe haben alle Fenster in der Wohnung zerstört. Nachts fällt die Temperatur unter den Gefrierpunkt, schlafen ist nur mit Jacke möglich. Um ohne Strom zu kochen, zünden sie Öl in einer Untertasse an und benutzen Kerzen, um eine Kanne Wasser zu erhitzen. Einmal am Tag macht Roman sein Handy an, um seiner Familie zu schreiben, dass er noch am Leben ist.

Der Fluchtkorridor bringt die Freiheit

Am 9. März einigen sich Russland und die Ukraine darauf, für kurze Zeit mehrere Fluchtkorridore einzurichten, um Zivilisten einen sicheren Weg aus den umkämpften Gebieten zu ermöglichen. Doch die russischen Soldaten in dem Wohnkomplex Pokrovsky erzählen den Geiseln davon nichts.

Es ist reiner Zufall, dass Anishchenko davon erfährt. Während eines überwachten Besuchs in ihrer Wohnung sieht sie aus dem Fenster einen Konvoi mit weißen Fahnen fahren und fragt einen russischen Soldaten, was dort los sei. Er erzählt ihr von der 72-stündigen Feuerpause und den Fluchtrouten. Daraufhin packen sie und einige ihrer Nachbarn die Taschen und rennen los. Draußen haben die Luftangriffe ihre Spuren hinterlassen. "Wir haben Leichen gesehen, die auf dem Boden lagen", berichtet die 33-Jährige. "Wir haben zerschmetterte und verbrannte Autos mit Leichen darin gesehen." 

Auch Naumenko hat Glück. Über eine WhatsApp-Gruppe erfährt er von der laufenden Evakuierung. Schnell packen er und seine Frau ihre Sachen zusammen. Als sie das Gebäude verlassen, warnt sie ein Soldat, dass zwar er ihn nicht erschießen würde, aber andere, die um die Anlage patrouillieren, dies tun könnten. Sie fliehen trotzdem und kommen unverletzt nach Kiew.

Quellen: "New York Times", mit AFP-Material

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