Wahlen in Afghanistan Urnengang ohne Gerechtigkeit

Von Christoph Reuter, Kabul
Drogenbarone als Kandidaten, verschwundene Urnen, Anschläge: Die Wahlen in Afghanistan sind kein Schritt zur Demokratie, sondern eine Farce. Die internationale Gemeinschaft trägt daran eine Mitschuld.

Parlamentswahlen, das stellt man sich ungefähr so vor: Kandidaten, die ein Programm haben, sich in Parteien organisieren und keine kriminelle Vergangenheit haben, sich nicht an Massakern, Drogenhandel oder Vertreibungen im großen Stil beteiligt haben; dazu eine unabhängige Aufsichtsinstanz, die einen fairen Ablauf und ein akkurates Auszählen der Stimmen sicherstellt. Und ein Umfeld der Sicherheit, so dass die Menschen sich trauen, zu den Wahllokalen zu gehen.

Nichts von alldem trifft auf die heutigen Parlamentswahlen in Afghanistan zu. Dabei sind die Anschläge, die mindestens zehn Menschen töteten, nur ein Problem dieser Abstimmung. Denn diese Wahlen werden kein Parlament hervorbringen, das seiner eigentlichen Funktion gerecht werden könnte.

Es sind, ausgehend von den offiziellen Zahlen der Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr, 17 Millionen Wahlregistrierungen im Umlauf. Die UN gehen von 10,5 Millionen Wahlberechtigten aus. Wer tatsächlich gewählt hat, wird unmöglich festzustellen sein. Es wird Betrug auf allen Ebenen geben: Wahlurnen werden gefüllt mit gefälschten Stimmzetteln, Wählerlisten gefälscht, volle Urnen verschwinden, während aus Wahllokalen, die nie geöffnet waren, tausende von Stimmen kommen, Auszählungsergebnisse werden sich auf wundersame Weise verändern.

Milizenführer und Drogenhändler auf der Wahlliste

Damit es noch leichter wird als letztes Mal, wurde der Passus aus dem Wahlgesetz gestrichen, dass die Wahlunterlagen dauerhaft aufbewahrt werden müssen. Im exakten Widerspruch zu seinem stets lächelnd vorgetragenen Versprechen, die Fairness der Wahlen zu garantieren, hat Präsident Hamid Karzai nach seiner gefälschten Wiederwahl 2009 umgehend das Gegenteil getan: Sofort änderte er das Wahlgesetz und entmachtete die Wahlbeschwerdekommission ECC, die den Betrug letztes Jahr aufgedeckt hatte.

Schon im letzten Parlament hatten rund 100 Abgeordnete eine dokumentierte Vergangenheit als Milizführer, Drogenhändler, Krimineller. Die Wahlbeschwerdekommission nun unter neuer, handverlesener Leitung, schloss nicht etwa die bekannten Kriminellen von der Wiederwahl aus - sondern eine Reihe vergleichsweise unbescholtener Kandidaten, die das Pech hatten, in ihren Provinzen ernsthafte Konkurrenten von Karzais Favoriten zu sein.

Ein Parlament aus Einzelkämpfern

Durch mehr als die Blockade von Ministerkandidaten und Gesetzesvorhaben ist das alte Parlament kaum aufgefallen. Wie sollte es auch angesichts seiner Zusammensetzung: Parteilisten und Fraktionsbildung waren nach der bisherigen Gesetzeslage verboten, ein Erbe der amerikanischen Bedenken nach 2001. Washington hatte befürchtet, dass als erste schlagkräftige Partei im Lande sich die Taliban organisieren würden. Und als zweite mutmaßlich die ehemaligen Kommunisten.

So entstand ein Parlament aus 249 Einzelkämpfern, vielen Ex-Kommandeuren und Geschäftsleuten, wenigen Politikern, die ihre Macht in wechselnden Allianzen im Wesentlichen zur Bereicherung nutzten, aber sonst kaum programmatische Ziele verfolgten. Parlamentssprecher Yunus Qanuni schaffte es einmal in die Schlagzeilen, als er am Flughafen in Dubai aufgegriffen wurde beim Versuch, Bargeld in Millionenhöhe und Edelsteine zu schmuggeln. Bei großen politischen Initiativen hingegen wie den Verhandlungen mit den Taliban wurde das Parlament von vornherein von Karzai und den USA umgangen.

Internationale Gemeinschaft hat ihre Mission verfehlt

Seit 2002 gab es Vorschläge, Druck, wie ein Parteiensystem und unabhängige Wahlaufsichtsbehörden aufgebaut werden könnten. Die Mehrheit der Afghanen hätte sich vermutlich genau dies von der internationalen Gemeinschaft gewünscht. Aber die hat daran gar kein Interesse, wie der Leiter der letzten Wahlbeschwerdekommission, der kanadische Diplomat Grant Kippen, lakonisch konstatiert: "Die Jahre von 2005 bis 2009 sind verschenkt worden." Stattdessen ließ man Hamid Karzai, einst auf Druck der Bush-Regierung in den Präsidentensessel gehievt, bedingungslos gewähren und fährt fort damit.

Allen Skandalen allein der letzten Wochen zum Trotz, der von Karzai verfügten Stilllegung der letzten funktionierenden Strafverfolgungsbehörde, dem Beinahe-Konkurs der größten Bank, die allein Karzais Bruder fast 100 Millionen US-Dollar Kredit überließ und nie einen Cent davon zurückforderte, will die US-Regierung aufhören, Karzai deswegen zu kritisieren. Wie die Washington Post vergangene Woche mehrere Berater aus Obamas Umfeld anonym zitierte, "erreichen wir doch nichts damit und verlieren die Fähigkeit, unser wichtigstes Ziel zu verfolgen". Und das ist: ein gesichtswahrender Abzug. Nichts anderes will auch die Bundesregierung, weshalb Außenminister Guido Westerwelle schon gestern in gänzlicher Ignoranz der Realität die Wichtigkeit betonte, dass "es unter dem Strich freie Wahlen werden", da sie "für die Aussöhnung und Reintegration in Afghanistan von großer Bedeutung" seien. Anhaltspunkte dafür hat er keine. Wichtig scheint nur, dass man bald abziehen kann, ohne ein Scheitern eingestehen zu müssen. Was danach kommt, ist dann Sache der Afghanen.